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Lichtspruch nach Tau

Lichtspruch nach Tau

Titel: Lichtspruch nach Tau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: diverse Autoren
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seinem Fachgebiet, meine nächste Frage würde entscheiden, ob ich ihn zum Reden bringen würde. »Sie sind Linguist?«
Ich hatte Glück.
»Ja, mein Lehrer war Professor Hoffmeister, für Sie bestimmt kein Begriff. Ein fabelhafter Wissenschaftler und ein wunderbarer Mensch. Er las niemals seine Manuskripte ab, wie das die meisten seiner Kollegen taten, einschläfernd und langweilig. Er sprach immer frei, blickte seine Hörer richtig an, verstärkte, variierte seine Gedanken, wenn er spürte, daß wir ihn noch nicht verstanden hatten. Die chaotische Vielzahl der Einzeltatsachen, in der ja jede Wissenschaft zu ertrinken droht, ordnete sich bei ihm zu einem überschaubaren, große Zusammenhänge erfassenden Gedankengebäude. Manchmals kam es in seinen Vorlesungen zu spontanem Beifall. Ich war von ihm fasziniert.«
Ich überlegte, wie ich am besten reagieren sollte, aber er schien keine Antwort zu erwarten. Er drehte sich zur Theke um; da sich dort aber immer noch nichts rührte, beugte er sich wieder zu mir. »Schon im vierten Semester durfte ich bei Hoffmeister an einer großen wissenschaftlichen Arbeit mitarbeiten!« Er machte eine Spannungspause, und seine Augen funkelten, als er den Titel dieser Arbeit nannte: »Die Verschiebung der Zitatenschwerpunkte der marxistischen Klassiker in unserer Literatur und ihre historischen Gründe!« Ich konnte mir weder den Inhalt noch die Bedeutung dieser Arbeit vorstellen und fürchtete, damit wäre der Gesprächsfaden gerissen. Aber er fuhr leise fort: »Leider starb mein verehrter Lehrer ganz plötzlich, und seine Arbeit verschwand in irgendwelchen Archiven. Der Rektor ging in seiner Trauerrede mit keinem Wort darauf ein. Ein empörender Vorgang, über den es damals viel Getuschel gab.«
Ich dachte, wenn nur nicht die Küche zu rasch in Schwung kommt, jetzt bin ich vielleicht dicht dran an seinem Geheimnis. Vorsichtig fragte ich: »Ich verstehe nicht ganz. Hatte es Ärger gegeben, Rivalitäten – oder was?«
Sein Körper straffte sich, leise, aber deutlich sagte er mit schmalen Lippen: »Es gab nichts! Schweigen, totschweigen, aber ich habe es nicht hingenommen, das nicht hingenommen!« Sein Gesichtsausdruck hatte jetzt etwas Energisches, gleichzeitig boshaft Verkniffenes. Und dann kam es aus ihm heraus, unaufhaltsam und ohne daß ich ihn weitertreiben mußte, eine verworrene Geschichte, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
Ein paar Jahre danach war er zu einer Gruppe von vier jungen Wissenschaftlern delegiert worden, einem Physiker, einer Biologin, einer Chemikerin und einem Mathematiker, denen man die Aufgabe übertragen hatte, eine automatische Geschmackskontrolle für die Konservierung von Lebensmitteln zu entwickeln. Er habe das als eine für Wissenschaftler entwürdigende Arbeit auf dem Niveau mittleren Ingenieurpersonals empfunden. Als er zum ersten Mal in den Raum 2103 des Instituts gekommen sei, wo die vier eine abenteuerliche Versuchsanordnung aufgebaut hatten, deren Sinn er überhaupt nicht verstand, habe er gleich bemerkt, daß sie ihn als Partner nicht akzeptierten. Für den Naturwissenschaftler sei ein Linguist, damals genauso wie heute, von vornherein eine komische Figur, jemand, der den Namen Wissenschaftler nicht für sich in Anspruch nehmen dürfe. Aus diesem Grunde habe er sich rasch wieder verdrückt und sei auch in den nächsten Wochen nur zweimal kurz bei ihnen aufgetaucht.
»Ich war aus vielen Gründen, die Sie nicht verstehen werden, sehr deprimiert und trank jedesmal ein paar Kognaks, ehe ich mich zu ihnen hineinwagte. Als ich wieder einmal bei ihnen auftauchte, traf ich sie in dumpfer Verzweiflung an. Ich ließ meine Taschenflasche kreisen, und nach einer Weile erfuhr ich den Grund ihrer Verzweiflung. Sie hatten die Problemprämisse ihrer Arbeit beim Wissenschaftlichen Rat einreichen müssen und nach erstaunlich kurzer Zeit die Antwort bekommen: Ihre Arbeit befände sich schon im Denkansatz im Widerspruch zu den Klassikern. Ich fragte sie, sicherlich etwas dümmlich, ob denn ihr Ding da nicht funktioniere. Meine Frage erheiterte sie ungeheuer. Sie küßten mich und ließen nun ihrerseits die Taschenflaschen kreisen!«
Es sei ihm richtig warm ums Herz geworden, als er den Grund ihrer Heiterkeit erfahren habe. Sie hätten seine »Furchtlosigkeit vor den Klassikern« bewundert. Und als er sich spontan verpflichtet habe, gravierende Zitate herbeizuschaffen, die die Übereinstimmung ihres Denkansatzes für den Geschmacksroboter mit den Auffassungen der

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