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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Dämme, Kanäle und Abflüsse zu bauen. Eine Herausforderung der Natur in einem gigantischen Maßstab. Über dieses Projekt wurden unzählige Bücher und Artikel geschrieben. Am Ende hat sich natürlich der Fluss durchgesetzt. Er trat über seine Ufer, als der Meeresspiegel richtig zu steigen anfing. Das Delta hat sich über den halben Golf von Texas ausgebreitet. Ich wünschte, ich könnte dir einen Eindruck verschaffen, wie es gewesen ist, in New Orleans mitten in einer von Menschen geschaffenen Wüste zu stranden, während gleichzeitig die Polkappen abschmolzen und wir jeden Abend in den Nachrichten von Überflutungen in New York und Paris erfuhren. Es war … unvergesslich.«
    »Ich glaube, die Erde war nie an den Stromraum angeschlossen. Damals gab’s noch nicht einmal Overlays, nicht?«
    »Nein. Nur eine primitive Form von VR. Aber das genügte. Ich habe meine eigenen Erinnerungen und die anderer Menschen. Mit der Zeit wird es immer schwieriger, sie auseinanderzuhalten. Was vielleicht gar nicht so schlecht ist.« Er lächelte. »Ich bin wahrscheinlich der einzige Überlebende, der sich daran erinnert, dass er in einem Cabrio über den Pontchartrain gefahren ist.«
    Li grinste. »Sicher mit einer schönen Blondine.«
    Cohen erwiderte ihr Lächeln, aber es war das bittersüße Lächeln eines Mannes, der einer alten Erinnerung nachhing.
»Mit Hyacinthes Witwe. Die erste Frau, in die ich je verliebt war.«
    Li wartete, wollte noch mehr hören, ihn aber nicht drängen.
    »Ich weiß«, sagte er und beantwortete eine Frage, die ihr gar nicht in den Sinn gekommen war. »Ich nehme an, aus einem puritanischen Blickwinkel könnte man sie als meine Mutter bezeichnen.«
    »Nun ja, du hast diesen besonderen Komplex ja nicht gerade erfunden.«
    »Es war aber nichts in dieser Richtung. Ich bin Hyacinthe, er selbst, auf eine Weise, wie es ein Kind, ein Schüler oder eine Erfindung nie sein könnte. Außerdem«, noch ein süßes, ernstes Lächeln, »ist das Herz ein kompliziertes Gebilde, ganz gleich, ob es aus Fleisch oder Schaltkreisen besteht. Es liebt nicht immer so, wie man es von ihm erwartet. Oder wie die Leute es von einem erwarten.«
    »Du musst vor mir keine Beichte ablegen, Cohen.«
    »Na ja, ich habe diese alberne Vorstellung, dass du mich eher verstehst als irgendjemand sonst. Und bisher hast du mich keine Rosenkränze beten lassen.«
    Eine plötzliche Erinnerung an nackte Knie auf einem kalten Kirchenboden und die Hände einer Erwachsenen – ihrer Mutter? –, die die Finger eines Kindes über die Glasperlen bewegten. Das ruhige, dunkle Ave . Das strahlende Pater . Das Kreuz, das vor ihr baumelte und gegen die Bank pochte.
    »Und ich glaube, ich verstehe dich«, sagte Cohen gerade, als sie wieder zu sich kam. »Was eine ziemliche Leistung ist, wenn man bedenkt, dass man das, was du mir über dich verraten hast, auf einer Streichholzschachtel notieren könnte. Zuerst dachte ich, du vertraust mir nicht. Dann kam ich zu dem Schluss, dass du einfach nur verschlossen bist. Bist du von Natur aus so, oder hat dir jemand beigebracht, andere derart vor den Kopf zu stoßen?«

    Li zuckte die Achseln und fühlte sich unbehaglich. »Nach den vielen Sprüngen ist alles verblasst. Ich erinnere mich nicht mehr an viel.« Sie machte eine Pause. »Und das Wenige, woran ich mich erinnere, weckt in mir in den Wunsch, ich hätte noch mehr vergessen. Welchen Sinn hat es, altes Elend mit sich herumzuschleppen?«
    Im Schweigen, das folgte, blickte sie auf und stellte fest, dass Cohen sie beobachtete.
    »Eine Wimper«, sagte er.
    »Was?«
    »Du hast da eine Wimper.«
    »Wo?« Li rieb sich das Auge.
    »Das andere. Warte mal.«
    Er rutschte über die runde Bank zu ihr herüber und neigte mit einer Hand ihren Kopf gegen die Samtpolster, während er mit der anderen über das untere Augenlid strich, um die lose Wimper zu beseitigen. Li roch extra-vielle , spürte Rolands warmen Atem auf der Wange, sah die weiche Haut an seinem Hals und den Puls, der darunter schlug.
    »Da haben wir sie«, sagte Cohen und hielt die Wimper mit einem schlanken Finger hoch.
    Sie öffnete den Mund, um ihm zu danken, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Die Hand, die unter ihrem Kinn gelegen hatte, strich über ihre Wange und folgte den blassen Linien des Faserbündels, das sich über die Muskeln von der Kieferkante bis zur Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen spannte.
    »Du siehst aus, als hättest du Gewicht verloren, sogar im Stromraum«, sagte er. »Du

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