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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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machst den Eindruck, als bekommst du nicht genug Schlaf.«
    Er sah sie an und ließ ihren Blick nicht mehr los. Die Hand auf ihrem Hals war warm wie die Sonne im Ring und erinnerte sie daran, wie lang es her war, seit jemand
außer einem Medi-Techniker sie berührt hatte. Eine düstere Sehnsucht machte ihr zu schaffen. Sehnsucht und eine bohrende Einsamkeit und der verzweifelte Wille, an die Person und die Gefühle zu glauben, die ihr manchmal so echt vorkamen.
    Oh nein, dachte sie.
    Sie sah weg und räusperte sich.
    Cohen drehte ihren Kopf zurück und hob den Zeigefinger, an dem immer noch die Wimper haftete. »Wünsch dir etwas«, sagte er.
    »Ich glaube nicht an Wünsche. Wünsch du dir was.«
    Er schloss die Augen und blies die Wimper in die verqualmte Luft.
    »Das ging aber schnell«, sagte Li und lächelte – oder versuchte es zumindest. »Du weißt wohl, was du willst.«
    Aber er sah sie nicht mehr an. Er hatte seine Armbanduhr ausgezogen und horchte daran, das Gesicht von Li abgewandt. Er drehte den goldenen Knopf, hielt die Uhr an sein Ohr, zog sie wieder auf und schüttelte sie.
    »Ich weiß nicht, was mit diesem Ding los ist«, sagte er. »Sie geht schon seit Wochen nach. Sehr ärgerlich.«
    »Cohen«, sagte eine Frauenstimme von irgendwo über ihren Köpfen. Ein Paar schlanker, brauner Beine war an ihrem Tisch stehen geblieben, und Li sah ein amüsiertes Lächeln und eine Hornbrille – und dahinter ihr eigenes Gesicht.
    Es war allerdings nicht ihr Gesicht. Es war das Gesicht eines namenlosen Teenagers, das sie vor fünfzehn Jahren in Shantytown jeden Tag im Spiegel gesehen hatte. Das XenoGen-Gesicht einer dünnen jungen Frau, die genauso groß gewesen wäre wie Li, wenn sie nicht acht Zentimeter hohe Absätze und einen roten Fetzen von einem Kleid getragen hätte, der aus der Nähe viel offenherziger wirkte als auf der Bühne.

    Die Sängerin warf Li einen abschätzigen Blick zu, dann setzte sie sich und legte Cohen provozierend einen Arm um die Schulter. »Ich dachte, ich hätte dich heute Abend ganz für mich allein«, sagte sie mit einer Stimme, die für Li keinen Zweifel daran ließ, warum Cohen in diesem Restaurant allein zu Abend gegessen hatte.
    Cohen zuckte unmerklich zusammen. »Tut mir leid«, sagte er mit einem Blick auf Li.
    »Mir nicht.« Li stand auf und strich mit tauben Fingern ihre Uniform glatt. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
    »Ich rufe dich später an.«
    »Nicht nötig.«
    »Dann eben morgen.«
    »Wie du willst.«
    »Nein«, hörte sie Cohen auf eine geflüsterte Frage antworten, als sie ging. »Es war nur etwas Geschäftliches.«

Interferenzmuster
    ► Wir erleben nicht das Fließen oder Vergehen der Zeit. Was wir wahrnehmen, sind Unterschiede zwischen unseren ak- tuellen Wahrnehmungen und unseren aktuellen Erinnerungen an frühere Wahrnehmungen. Wir interpretieren diese Unter- schiede richtig als Hinweise darauf, dass sich das Universum mit der Zeit verändert. Wir interpretieren sie auch, allerdings fälschlicherweise, als Hinweise darauf, dass sich unser Be- wusstsein oder die Gegenwart oder sonst etwas durch die Zeit bewegt … Wir existieren in einer Vielzahl von Versionen, in Universen, die wir als »Momente« bezeichnen … Es ist eine verlockende Vorstellung, nur den Moment, dessen wir uns be- wusst sind, als wirklich zu betrachten oder zumindest etwas wirklicher als die anderen. Aber das ist reiner Solipsismus. Alle Momente sind physikalisch real. Das gesamte Multiversum ist physikalisch real. Ansonsten nichts.
     
    DAVID DEUTSCH

ABG-Station: 20.10.48.
    L i beschloss, nicht hinzugehen, änderte ihre Meinung aber mindestens achtmal.
    Sie sagte sich, dass sie allmählich zu alt wurde, um dem Ruf ihrer Hormone überallhin zu folgen, und dass ihr Vorwand – dass sie bei dieser Einladung Gelegenheit hätte, einige Fragen über Sharifi zu stellen – einfach jämmerlich war. Wenn sie wirklich etwas Dampf ablassen wollte, wäre es besser, sich einen Fremden in einer Bar zu greifen, statt einer Frau nachzujagen, auf die sich kein vernünftiger Mensch in ihrer Position einlassen sollte.
    Schließlich traf sie zwei Minuten zu früh ein, drückte sich vor der Tür herum und war unschlüssig, ob sie verschwinden oder sich noch ein paar Minuten die Füße vertreten sollte. Gerade als sie sich sagte, dass es zu spät war, um noch einen Rückzieher zu machen, öffnete Bella die Tür.
    Sie war weiß angezogen: ein langes, fließendes Seidenkleid, das sich in der niedrigen

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