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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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gesehen, das ist alles.«
    »Ich kannte sie«, sagte Sharpe. Er nahm ein Skalpell und spielte damit herum, schraube die Klemme, die die Klinge mit dem Griff verband, auf und wieder zu. »Ich mochte sie. Sie war … ehrlich.«
    Er schien keine Antwort zu erwarten, also wartete Li und sah ihn herumzappeln.
    »Wie auch immer«, sagte er und wurde rot. »Darum geht’s nicht. Es geht darum, dass ich … Anweisungen erhalten habe. Nach ihrem Tod. Gelten diese Anweisungen immer noch?«
    Li starrte ihn an und fragte sich, in welch ein politisches Minenfeld sie hier getappt war. »Wieso fragen Sie mich?«
    Mit gerunzelter Stirn musterte Sharpe ihr Gesicht. »Hat Ihnen jemand erklärt, wie das System der Leichenbeschauer in Sankt Johannes funktioniert?«
    Li musste einen Moment nachdenken, bevor sie darauf kam, dass Sankt Johannes der offizielle Name von Shantytown war. Sie schüttelte den Kopf.
    »Wenn jemand innerhalb der Stadtgrenze stirbt, habe ich die volle Autorität, alle Untersuchungen durchzuführen, die erforderlich sind, um die Todesursache festzustellen und den Fall abzuschließen. Wenn jemand auf ABG-Gelände stirbt, wird der Fall dem ABG-Management übergeben. Sofern die ABG mich nicht um eine Autopsie bittet, verwahre ich die Leiche bis zur Entsorgung oder, was seltener vorkommt, bis zur Überführung. Es wird natürlich trotzdem ein Totenschein ausgestellt. Aber in diesem Fall füllte Haas ihn aus. Ich tat nicht viel mehr, als ihn abzustempeln.«
    »Weiter«, sagte Li. Sharpe spielte immer noch mit dem Skalpell, und jedes Mal, wenn er es umdrehte, fürchtete
Li, er könne sich einen Schnipsel von der Fingerspitze abschneiden.
    »In der Praxis lässt mich ABG eine Autopsie an jedem durchführen, der in der Grube stirbt. Aber diesmal nicht. Diesmal erhielt ich ein Bündel automatischer Ermächtigungen, alle von Haas unterschrieben. Außer für zwei Personen: Voyt und Sharifi. Für die beiden erhielt ich ausgefüllte Totenscheine, die ich unterschrieb und nach oben schickte.«
    »Und jetzt wollen Sie die Autopsien durchführen.«
    »Würden Sie das nicht tun?«
    »Warum?«
    »Wenn Sie Haas nicht auf die Füße treten wollen …«
    »Ich mache mir keine Sorgen, dass ich Haas auf die Füße treten könnte«, sagte Li.
    Eine Stimme irgendwo aus der Nähe ihrer Magengrube flüsterte ihr geistreich zu, dass sie nicht ins Becken springen sollte, bevor sie sich vergewissert hatte, dass es mit Wasser gefüllt war. Sie unterdrückte die Stimme.
    »Gut«, sagte sie. »Machen Sie Ihre Autopsien. Aber kein anderer sieht die Ergebnisse, bevor ich sie abgezeichnet habe. Dann weiß ich wenigstens, wie lang ich mich ducken muss, damit mein Kopf auf meinen Schultern bleibt.«
    Sharpe sah sie nüchtern an. »Ich weiß das zu schätzen.«
    »Behalten Sie’s für sich«, sagte sie – und fügte nur halb im Scherz hinzu: »Ich gebe Ihnen gerade genug Seil, dass Sie mich aufhängen können.«

Shantytown: 14.10.48.
    A ls sie die Klinik verließ, hätte sie gleich zum Hubschrauberlandeplatz zurückgehen und in den nächsten Shuttle zurück zur Station steigen sollen. Aber sie tat es nicht. Ohne darüber nachzudenken, wohin sie eigentlich wollte, wandte sie sich am Ende der Klinikstraße nach links statt nach rechts und stieg die gewundenen, schlecht gepflasterten Straßen hinauf, die in den alten Teil von Shantytown führten.
    Der Großteil von Shantytown war im ersten Rausch der Bose-Einstein-Immigration gebaut worden. Damals hatte man wenig Geld, wenig Zeit und wenige Pläne gehabt, und aus den meisten Blickwinkeln sah die Stadt wie eine ausgedehnte Ansammlung von modularen Wohneinheiten aus, die jemand zufällig fallen gelassen und nicht wieder eingesammelt hatte. Erst wenn man tiefer in den alten Stadtteil vordrang, sah man die Fundamente, auf denen die Stadt errichtet war, die versiegelten Biokapseln der ursprünglichen Kolonie. Die wenigsten Kapseln konnten noch eine Atmosphäre aufrechterhalten, aber die moderne Stadt war um die von ihnen ausgehenden Speichen gewachsen wie Hautstücke, die auf einer chirurgischen Trägermatrix wuchsen. Das Ergebnis war ein Labyrinth aus schmalen Gassen und fensterlosen Höfen, durch das sich ein Einheimischer viele Kilometer weit bewegen konnte, ohne ein einziges Mal den Himmel zu sehen oder auf dem orbitalen Überwachungsraster aufzutauchen.
    Die Aufstände waren hier einige Monate nach Lis Geburt ausgebrochen, und das kollektive Gedächtnis der UN hatte sich nie davon erholt. Shantytown war

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