Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
Vom Netzwerk:
immer noch ein Synonym für Gewalt, Verrat, Terrorismus. Und noch immer lebte hier der höchste Prozentsatz von Konstrukten im UN-Raum. Als sie nach langer Zeit wieder durch
diese Straßen ging, erinnerte Li sich plötzlich an ihren Kurs in der Offiziersschule vor acht Jahren. An ihre verworrenen Scham- und Ekelgefühle, als sie das urbane Kriegslabor als eine genaue Stromraum-Nachbildung der verbundenen Tunnel und Höfe des alten Shantytown erkannte. Als sie in den Gesichtern der Zielobjekte ihr eigenes Gesicht erkannte.
    Sie fand die Kapelle, ohne sich einzugestehen, dass sie sie überhaupt gesucht hatte. Sie blieb vor dem Tor stehen, legte ihre Hände dagegen und drückte es auf. Als sie auf den kleinen Friedhof trat, bekreuzigte sie sich.
    »Unsere Herrin der Tiefe« stand noch dort, wo Li sie in Erinnerung hatte: in den steilen Felsvorsprung eingebettet, wo der prähistorische Seeboden, auf dem Shantytown errichtet war, auf die Hügel traf, die zu den Geburtslabors und den illegalen Minen hinaufführten. Die Tür stand offen. Li warf einen Blick hinein, als sie vorbeiging, sah die düstere Höhle des Kirchenschiffs und, wie das Tageslicht am Ende eines Minentunnels, das gedämpfte milchweiße Schimmern der steinernen Maria.
    Der Friedhof hatte etwas Kitschiges, das in ihren Kindheitserinnerungen fehlte. Der abblätternde weiße Anstrich des Pfarrhauses, der billige Isolationsschaum rings um die schlecht sitzenden Scheiben, die allzu strahlenden Farben der künstlichen Blumen, das befleckte Hartgewebe der Grundsteine, die sich unter einem Chemikalienregen wellten, dem sie nicht standhalten konnten. All das reichte fast, um sie davon abzulenken, was an dem Friedhof wirklich bestürzend war: wie jung diese Menschen alle gestorben waren.
    Sie ging die Gräberreihen entlang und las die Geburts- und Todesdaten. Fünfunddreißig. Vierunddreißig. Vierundzwanzig. Achtzehn. Und dabei waren die Säuglingsgräber noch gar nicht mitgezählt, die halb von grüngrauen
Klumpen sauerstofferzeugender Algen überwuchert waren.
    Sie stolperte zufällig über das Grab, nach dem sie suchte, und sobald sie es sah, wusste sie, dass sie – was immer sie gedacht, was immer sie sich eingeredet hatte – noch nicht bereit war, es zu sehen. Sie hatte nicht wirklich daran geglaubt, so wie sie auch nicht daran geglaubt hatte, dass ihr Vater in all den Jahren wirklich tot gewesen war.
    Aber hier war sein Grab. Gil Perkins. Und die Daten unter dem Namen. Er war sechsunddreißig gewesen, als er starb. Was bedeutete, dass der alte, ausgezehrte, vernarbte Vater ihrer Kindheit damals jünger gewesen war als sie jetzt.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
    Sie fuhr herum.
    Ein Priester. Jung. Athletisch gebaut. Kein Einheimischer. Er sah sie mit hellen, interessierten Augen an. Er hatte ein intelligentes, empfindsames Gesicht, das Gesicht eines optimistischen jungen Mannes, der davon überzeugt war, dass alle Menschen im Grunde ihres Herzens gut waren. Er hatte das Priesterseminar vermutlich erst vor drei oder vier Jahren absolviert und hier an der Front, bei seinem Kampf fürs Gute, die ersten Erfahrungen mit der Armut gemacht. Li kannte solche Typen. Sie taten viel Gutes, aber sie waren nur Besucher auf Compsons Planet, keine Gebürtigen. Sie kamen für ein oder zwei oder zehn Jahre, aber früher oder später kehrten sie immer wieder zum Raumhafen von Helena zurück und flogen in einem Sprungschiff nach Hause. Eine Entscheidung, die Li ihnen nicht zum Vorwurf machen konnte.
    »Ich … ich habe nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie. »Mich ein bisschen umgeschaut.«
    »Liegt hier jemand, den Sie kennen?«

    »Was? Oh … ja. Ein wenig.«
    »Es ist fünfzehn Jahre her, und noch immer besuchen Menschen sein Grab. Er muss einer dieser Menschen gewesen sein, die man nicht vergisst.«
    »Er hatte nichts Besonderes an sich«, sagte Li.
    Der Priester lächelte. »Wenn Sie das sagen.«
    Sie sah in sein schmales, kluges, aufrichtiges Gesicht. Er war keiner, der sie kannte oder je von ihr gehört hatte. Mein Gott, er war jünger als sie. Warum sollte sie’s nicht riskieren?
    »Wer besucht ihn denn?«, fragte sie beiläufig.
    »Eine Frau … Ach, ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Sie ist in eine andere Gemeinde verzogen, bevor ich herkam. Eine Blondine.« Er grinste. »So irisch wie grünes Gras und Tinkers-Ponys. Groß, ungefähr so groß wie ich.« Dann hob er die rechte Hand, und Li wusste sofort, was er sagen

Weitere Kostenlose Bücher