Lichtspur
Gehirnteilen gestorben, mit denen sie geboren worden war: das Gehirn einer Person, die niemals einen Stromraum-Zugang für militärische Anwendungen benötigt und in ihrem Leben nicht mehr als eine Handvoll Bose-Einstein-Sprünge absolviert hatte.
Sharifis vordere Hirnlappen erzählten allerdings eine ganz andere Geschichte. Sie strahlten auf dem Bildschirm wie eine Freetown-Datenoase. Was immer darin steckte, sah für Lis ungeübte Augen wie eine weißglühende tausendbeinige
Spinne aus – eine Spinne, die sich einen Weg in jede Falte, jede Furche zwischen Sharifis zerschmetterten Schläfen gebahnt hatte.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte sie.
Sharpe gab einen langen, tiefen Pfiff von sich. »Das kann ich Ihnen nicht einmal annähernd erklären«, sagte er. »Das hier geht weit über meine technischen Kenntnisse hinaus. Eines kann ich Ihnen allerdings sagen. Das Ding wurde an einem Stück eingepflanzt. Und es ist noch nicht lange her.«
»Vor drei Monaten«, sagte Li.
Er sah sie mit gehobenen Augenbrauen an. »Ja, das könnte stimmen. Normalerweise wird ein so umfangreiches Netz durch Anwachsen aufgebaut. Mehrere Fasergenerationen, sogar redundante Netzwerke, die in mehreren Schichten übereinander angelagert werden. Man findet dann Narbengewebe von unterschiedlichem Alter. Zu dem Zeitpunkt, wenn jemand so verkabelt ist, hat er ebenso viel tote wie aktive Technik im Kopf. Aber diese Implantation wurde in einer einzigen Operation durchgeführt. Vermutlich in einer Klinik im Ring. Oder auf Alba.« Er warf Li einen Blick zu. »Um ehrlich zu sein, sieht es für mich mehr wie Militärtechnik aus als irgendetwas anderes.«
»Nun, es wurde nicht auf Alba gemacht«, sagte Li. »So viel kann ich Ihnen sagen.« Sie betrachtete den Scan und verglich ihn mit ihren eigenen Gehirnscans, die nach ihrem letzten Upgrade vorgenommen wurden, um herauszufinden, welche von Sharifis Gehirnbereichen am dichtesten verkabelt waren. Irgendetwas an Sharifis System erschien ihr merkwürdig. »Ich komme nicht dahinter«, sagte sie schließlich. »Woran ist das Ding angeschlossen? Welchem Zweck dient es?«
»Der Kommunikation«, sagte Sharpe. »Es sind alles Kommunikationsschaltungen.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Sehen Sie hier. Und hier. Diese dunklen Bereiche
dort und der Kontrast. Wenn wir uns den Scan eines typischen kybernetischen Implantats ansehen würden – Ihres zum Beispiel –, würden wir eine viel gleichmäßigere Verteilung von Fasern feststellen. Eine gewisse Verdichtung in den motorischen Bereichen. Einen Knoten etwa hier für das Orakel, von dem das Ganze gespeist wird. Außerdem eine hohe Konzentration von Fasern im Sprach-, Hör- und Sehzentrum. In anderen Worten: Ihre Spinvideo-Module, Ihre VR-Interfaces, Ihre Kommunikationssysteme. Sharifis Implantat ist völlig anders. Kein Orakel, keine Operationsplattform, keine Relais. Nur Fasern. Und sie konzentrieren sich weitgehend auf die Sprach-, Seh- und Hörzentren.«
»Dann ist das Ganze nur ein etwas ausgefallener Netzzugang? «, fragte Li enttäuscht.
»Nicht ganz.« Sharpe schürzte die Lippen, trat von dem Scanner zurück und zog seine Handschuhe aus. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es war eine Art Overlay-System. «
»Ein Overlay?« Li schüttelte den Kopf und hatte ein flüchtiges, zusammenhangloses Bild einer hinstürzenden Kolodny vor Augen, das sie gleich verdrängte. »Das ist verrückt. Warum sollte sich jemand wie Sharifi für ein Overlay ausrüsteten lassen? Das ergibt keinen Sinn.«
»Es gibt solche und solche Overlay-Systeme. Das hier ist kein gewöhnliches, sondern ein sehr spezialisiertes.« Sharpe runzelte die Stirn. »Könnte ich dieses Interface-Kabel noch einmal sehen?«
Li zog es aus der Tasche und reichte es ihm. Sie sah zu, wie Sharpe das Interface untersuchte, seine Augenprothese sich zusammenzog wie eine Kameralinse und seiner Pupille den silbrigen Glanz einer Maschine verlieh.
»Ich glaube«, sagte er vorsichtig, »dass wir hier ein modulares System vor uns haben. Die meisten internen Netze
sind einheitlich; sie können im Stromraum oder unabhängig davon betrieben werden; warum sollte man sonst überhaupt ein internes System implantieren, nicht? Eine typische Verkabelung ist daher eigentlich ein diskretes Betriebssystem, das auf einer nonautonomen KI läuft und an ein mehr oder minder umfangreiches kybernetisches Netz angeschlossen ist. Es fungiert als Interface zum Stromraum, aber es braucht keine externe Zufuhr, um
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