Lieb mich schoener Fremder
Jennie? Ich dachte, Sunrise gefällt Ihnen", fragte Inspektor Dan Creighton, der für ihre Sicherheit zuständig war.
"Das tut es auch", versicherte sie ihm, da sie wusste, wie wichtig es ihm war, dass seine Schützlinge sich mit ihren neuen Identitäten ein einigermaßen glückliches Leben aufbauten.
Sie wünschte, sie brauchte diesen väterlichen Mann nicht zu belügen. "Leider habe ich eine Frau gesehen, die an derselben High School war wie ich." Sie sagte das, um Trevs Namen aus den Akten der Justiz herauszuhalten. Man konnte nie wissen, ob es nicht irgendwo ein Leck in dem angeblich perfekten Sicherheitssystem gab. "Ich erinnere mich nicht an ihren Namen, aber ..."
"Hat die Frau Sie erkannt?" unterbrach Dan sie besorgt.
"Nein, ich glaube, sie hat mich nicht einmal gesehen. Das erste Mal habe ich sie bemerkt, als sie ihren Hund in meiner Straße ausführte. Ein paar Tage später habe ich sie noch einmal im Lebensmittelladen gesehen. Deshalb nehme ich an, dass sie in meiner Nachbarschaft wohnt."
Sie erörterten die Situation. Dan war derselben Meinung wie sie -ein Ortswechsel sei nötig, damit sie nicht trotz aller Veränderungen erkannt wurde. Eine Namensänderung sei allerdings nicht nötig. Auf seine Frage, wohin sie ziehen wollte, nannte Jennifer ihm mehrere Städte, die sie aus dem Internet herausgesucht hatte. Die Nummer eins in ihrer Auswahl war St. Paul in Minnesota - der Ort war sowohl von ihrer Heimatstadt New Orleans als auch von Kalifornien und Sunrise, Georgia, weit entfernt. Und sie kannte niemanden in Minnesota.
"Ich werde recherchieren, welche Figuren dort im organisierten Verbrechen mitmischen", versprach Dan. "Falls Ihre Feinde in St. Paul nicht aktiv sind, erledige ich umgehend den Papierkram, und am Wochenende können Sie sich auf den Weg machen. Bis dahin bleiben Sie in Deckung."
In Deckung bleiben. Ihr Lebensmotto.
In düsterer Stimmung fuhr Jennifer zur Arbeit. Es würde ihr sehr schwer fallen, diese Stadt zu verlassen, in der sie sich mittlerweile zu Hause fühlte. Noch schlimmer war die Vorstellung, den Job aufzugeben, der ihr wirklich gut gefiel. Ganz zu schweigen von der Arbeit mit den Kindern, die ihr ans Herz gewachsen waren.
Aber sie hatte keine andere Wahl. Trev war in Sunrise und würde hier leben. Sie konnte nicht bleiben.
Und vor allem durfte sie nicht an ihn denken. Der Schmerz darüber, dass sie ihn zum zweiten Mal verlassen hatte, war unerträglich. Sie hatte das Wochenende hinter sich gebracht, indem sie wie besessen im Internet Informationen über mögliche neue Wohnorte sammelte.
Zumindest konnte sie dankbar sein, dass Trev sie nicht erkannt hatte. Sonst hätte sie sofort aus Sunrise verschwinden müssen, um in irgendeinem Nest auf neue Ausweispapiere zu warten. Und dann in einer fremden Stadt einen neuen Job suchen, ohne Zeugnisse und Referenzen. Empfehlungen von fiktiven Arbeitgebern gehörten nämlich nicht zum Maßnahmenkatalog des Zeugenschutzprogramrhs. Es war den Behörden zu riskant, mit gefälschten Belobigungen Leuten bei der Jobsuche zu helfen, von denen viele früher Kriminelle gewesen waren.
Jennifers neue Identität damals hatte deshalb auch beruflich einen neuen Anfang bedeutet, zumal sie aus Sicherheitsgründen nicht einmal in ihrem erlernten Beruf arbeiten durfte. So war sie über Nacht von der gut verdienenden Haarstylistin zu einer ungelernten Arbeitslosen geworden, die sich ein neues Aufgabenfeld suchen musste.
Sie hatte sich in den vergangenen sieben Jahren mit harter Arbeit hochgekämpft, mit dem festen Vorsatz, nie wieder bei null anfangen zu müssen. Aber genau das drohte ihr, wenn ihre Schein-Identität platzte. Und um ein Haar wäre es passiert. Es war heller Wahnsinn gewesen, dass sie mit Trev auf sein Zimmer gegangen war. Doch die Erinnerung daran würde sie ihr Leben lang hüten wie einen kostbaren Schatz.
Sie zwang ihre Gedanken von Trev fort und parkte vor dem kleinen Backsteingebäude, in dem sich die Büros der Agentur befanden. Heute würde sie kündigen - bei ihrer einwöchigen Kündigungsfrist war das völlig unproblematisch - und während ihrer letzten Arbeitswoche so viel wie möglich per Telefon und Faxgerät von zu Hause aus arbeiten. Sie würde sich einen Lebensmittelvorrat anlegen und sich in ihrer Wohnung verschanzen, bis sie von Dan grünes Licht für den Umzug bekäme.
Schweren Herzens betrat sie das Empfangsbüro und begrüßte mit einem gezwungenen Lächeln Marlene, die hübsche Rezeptionistin.
"Hi, Jennifer.
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