Liebe 2.0
Und mit einem Mal springt er auf
und ist mit drei großen Schritten neben mir. „Hey, Lara … Sehen wir uns
bald wieder?“
Ich könnte
entgegnen, dass wir uns sogar ganz bestimmt in wenigen Stunden im Büro wieder
sehen, aber das ist zu blöd. Doch statt eine passendere Antwort zu suchen,
schaltet sich plötzlich ein veralteter, leicht eingerosteter Automatismus in
mir ein, und ehe ich es mich versehe, sage ich mit hoher, piepsiger Stimme: „Kann
sein – kann nicht sein … “ Daraufhin muss ich furchtbar lachen, als hätte
ich soeben den Witz des Jahrhunderts erzählt – bis ich in Max’ verständnisloses
Gesicht blicke. Auf einen Schlag weicht jede wohlige Restwärme aus meinem
Körper, und ich komme mir vor wie der einsamste Mensch der Welt. Schnell wende
ich mich ab und sage in bemüht normalem Tonfall: „Sicher, ich denke schon.
Danke für heute!“
Ehe Max etwas erwidern kann, bin ich auch schon draußen.
Auf dem Weg zur Straßenbahn kämpfe
ich erneut gegen den Kloß, der immer dicker und dicker wird, je verzweifelter
ich gegen ihn anschlucke. Kann sein – kann nicht sein… Es ist albern,
ein blödes Zitat von einer uralten Kinderkassette, nichts von Bedeutung. Und
doch von einer solchen Tragweite, dass es mir einen schönen Abend mit einem
noch schöneren Mann nachträglich ruiniert.
Kann sein –
kann nicht sein… Während unseres Studiums hatten Jonas und ich eine Phase,
in der wir zum Mittagessen immer alte TKKG -Kassetten gehört haben. Es
war einfach zu lustig, sich gegenüberzusitzen, die Miracoli -Nudeln
aufzudrehen und den Gaunereien von Typen wie Ritschie Gernreich und Raimund
Fieslinger zuzuhören. Und da wir irgendwann Jonas’ gesamte Kassettensammlung
auswendig kannten, gingen besonders lustige oder blöde Sprüche in unseren
Wortschatz über – etwa die Pseudo-Zen-Weisheit Kann sein, kann nicht sein …
von Tims Karatetrainer Lam Wung Chun aus Folge 56.
Mit den Jahren
wurde unsere Zitatesammlung immer größer, sei es nun aus Filmen, Serien oder
aber auch dem realen Leben. Es genügte nur ein Stichwort, ein Augenblick, und
entweder Jonas oder ich hatten lachend den passenden Kommentar aus unserem
Arsenal gefischt. Etwa, wenn einer von uns etwas begriffsstutzig war und nicht
gleich verstand, was der andere meinte. Dann klopfte der ihm à la Zurück in
die Zukunft mit dem Knöchel gegen die Stirn und rief: Hallo-ho, McFly,
jemand zu Hause!? Oder wenn ich schlechte Lügnerin mich aus irgendetwas
herausreden musste. Wo waren schon wieder die Autoschlüssel? Wer hat den
letzten Pudding gegessen und keinen neuen gekauft? Dann startete ich stets den
Angriff nach vorne, indem ich wie Joey aus Friends behauptete, ein
Waschbär sei in die Wohnung spaziert und habe die Autoschlüssel versteckt, den
Pudding gegessen und die Dissection -CD in die Dimmu Borgir -Hülle
gepackt. Wenn wir eine Einkaufsliste erstellten, konnte ich es mir nicht
verkneifen, regelmäßig in Olli Kahn-Manier zu tönen: Eier! Wir brauchen
Eier!!! Und Jonas liebte es, politische Diskussionen mit dem Allgemeinplatz
seines verstorbenen Großvaters zu beenden: Die sind doch alle balla balla!
So hat sich
regelrecht eine eigene Sprache zwischen uns entwickelt. Eine Sprache, die (der
heutige Abend zeigt es einmal mehr) nur zwischen uns funktionierte. Die nur
zwei Sprecher besaß, die jetzt nicht mehr miteinander reden. Weil sie sich
schlichtweg nichts mehr zu sagen haben. Weil alle Worte aufgebraucht sind. –
Verantwortungslos, wenn man bedenkt, dass Wissenschaftlern zufolge sowieso alle
zwei Wochen eine Sprache stirbt. Was bleibt, sind bloße Floskeln, sinnentleerte
Relikte.
Ich schlucke schon wieder, weigere mich aber, den Tränen nachzugeben.
Reiß dich zusammen! Das hatten wir doch alles schon längst durch! Was vorbei
ist, ist vorbei! Und über vergossene Milch soll man nicht jammern. Man darf
lediglich ab und an die Nase rümpfen, wenn ihr säuerlicher Geruch noch einmal
an die Oberfläche steigt… Aber ist das ein Trost?
Als Astrid am nächsten Tag mein vor
Muskelkater schmerzverzerrtes Gesicht sieht, macht sie sich ihren eigenen Reim
und streicht die ohnehin skeptisch beäugte Fit&Flirt -Option
endgültig von ihrer Single-Aktionsliste. Und ich selbst verspüre aus
verschiedensten Gründen keinerlei Veranlassung, ihren Eindruck zu korrigieren.
Sechzehn
Schneller als gedacht, ist Max’
letzte Woche beim Sender um. Ehrlich gesagt kann ich mir kaum vorstellen, wie
der Alltag demnächst ohne ihn sein wird.
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