Liebe 2.0
aufgrund ihres unbewältigten
Elektra-Komplexes für ihren Vater opfert und vom bösen Biest einsperren lässt.
Und als sei das noch nicht schlimm genug, überwindet sie auch noch nach und
nach ihre berechtigte Abscheu gegenüber dem selbstgerechten Geiselnehmer und
verbündet sich mit ihm! Vorsichtig neige ich meinen Kopf zu Clara. „Hast du
schon mal was vom Stockholm-Syndrom gehört?“
„Schhhht!“,
macht meine kleine Schwester, und starrt weiter gebannt auf die Mattscheibe.
Clara hat ganz genaue Vorstellungen von Romantik und lässt sich da im wahrsten Sinne
nicht reinreden. Ich weiß noch, wie bitterlich sie geweint hat, als sich Fiona
am Ende von Shrek in einen Oger verwandelt hat. Diese Art von Happy End
war völlig gegen die Regeln und meiner kleinen Schwester eindeutig zu
alternativ. In ihrer Welt verwandeln sich Frösche in Prinzen, und die Hexen
werden verbrannt. Noch Fragen?
Seufzend lehne ich mich noch weiter zurück und versuche, die kritischen
Stimmen in meinem Kopf zu ignorieren. Aber der Zeichentrick-Zauber will mich
einfach nicht mehr so recht umfangen. Von wegen Märchen schreibt die Zeit… Es ist, als hätte ich diese rosarote Welt endgültig verlassen. Schade! Ein
kleines bisschen hatte ich gehofft, ich könnte Clara doch noch einmal dahin
folgen, zurück an diesen Ort der Romantik und naiven „Happy End“-Gläubigkeit.
Und sei es auch nur für einen Abend als Burgfräulein in einer selbstgebauten
Federbettenfestung.
Als ich vor einem halben Jahr
vorübergehend wieder bei meinen Eltern eingezogen bin, habe ich eigentlich nur
bei Clara gewohnt. Denn was mein eigenes Zimmer betraf, so entsprach es,
übertragen auf die Märchenwelt, einem dunklen, verhexten Wald voller
Spukgestalten. Keine Sekunde konnte ich es dort alleine aushalten!
Zum Beispiel
waren da diese fast lebensgroßen Schattenrisse, die Jonas und ich von uns an
einem Regentag an die Wand geworfen und mit schwarzer Farbe ausgemalt hatten.
Die lösten sich jetzt plötzlich von der Wand und begannen, mir irgendwelche
Szenen aus unserer Vergangenheit vorzuspielen, als wären wir im Theater. Und so
sah ich mich wieder an meinem Schreibtisch sitzen, süße sechzehn Jahre alt,
während Jonas, gerade neunzehn geworden, hinter mir stand und mir irgendwelche
mathematischen Formeln erklärte. Ich sah uns auf meinem Bett liegen, wie wir
erste vorsichtige Zärtlichkeiten austauschten, während unsere Herzen vor
Aufregung synchron bis zum Hals klopften. Und ich sah, wie wir schließlich
miteinander schliefen, wieder und immer wieder…
Mein Zimmer war
Jahre lang unser Teeny-Liebesnest gewesen, voll von alten Fotos, Konzertkarten,
getrockneten Blumen und kitschigen Kuscheltieren. Aus jeder Ecke sprang mich
eine andere Erinnerung an, drängte sich mir förmlich auf, schnitt sich in mein
Fleisch und schob sich unter meine Haut. Und gerade, wenn ich dachte, der
Schmerz könnte nicht noch größer werden, fiel mein Blick auf die unheimliche
weiße Gestalt, die wie ein Wachposten meine Zimmertür umflatterte und jede
Flucht unmöglich machte. – Was hatte es damit auf sich? War es vielleicht Hui Buh,
das Schlossgespenst, das sich verirrt hatte? Nein, leider nicht. Es war mein
Brautkleid, das sich aus Verzweiflung über die geplatzte Hochzeit an einem
Kleiderhaken erhängt hatte; in einem schlichten Schonbezug, der nicht von
ungefähr an einen Leichensack erinnerte, verbarg es sich vor der umso schonungsloseren
Realität.
Tatsächlich ist es kein geschickter Schachzug gewesen, eine Beziehung
ausgerechnet an dem Ort vergessen zu wollen, an dem sie ihren Lauf genommen
hat. Alles in meinem Zimmer wirkte wie aus einem anderen Leben, das erst kurz
zuvor aufgehört hatte und doch eigentlich – mein Brautkleid war Kronzeuge und
Nebenkläger zugleich – für die Ewigkeit gedacht war. Aber Spukgestalten hin
oder her, ich konnte meine Eltern ja schlecht zwingen, mal eben ein neues Haus
in einer anderen Stadt zu kaufen, nur um unbehelligt meinen Weltschmerz
auszukurieren. Also mied ich vorerst diesen Friedhof der Kuscheltiereund
zog stattdessen bei Clara und Lillifeeein. Aneinandergekuschelt im
Prinzessinnenbett, versuchte ich, mich daran zu erinnern, wie es war, als man
noch sorglos einschlief und fest darauf vertraute, von einem hübschen Prinzen
wach geküsst zu werden, der jeden Albtraum von Trennung, abgesagter Hochzeit, akuter
Geldnot und drohender Obdachlosigkeit beendete. Und obwohl der nächste Morgen
erwartungsgemäß vom Wecker und nicht von
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