Liebe 2.0
Einkaufszentrum gefahren sind, um uns
einen Schub trendige 90er-Jahre-Klamotten zu kaufen, war das ein echtes
Highlight.
Hier dagegen
legt man Wert auf andere Dinge. Beständigkeit. Gemeinnutzen. Zu McDonald’s oder ins Kino geht eben nicht jeder. Aber gestorben wird immer. Und so ist
unser Dorffriedhof wunderschön. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe mit vielen
Grünflächen, ein paar alten Bäumen und gotischen Engelsstatuen, die den Weg zu
den einzelnen Gräbern weisen. Früher bin ich oft hierher gekommen, besonders im
Herbst, um Allerheiligen herum, wenn die dunklen Bäume im roten Schein der
Grablichter glühen. Obgleich ich nicht sonderlich morbide veranlagt bin, so habe
ich doch hier eine Ruhe gefunden, die ich anderswo vergeblich suchte.
Nur bei meinem
letzten Besuch, da konnte mir selbst der Friedhof keinen Frieden mehr geben.
Rastlos bin ich zwischen den verschiedenen Gräbern umhergegeistert, den
Gedanken an Verlust und Abschied frisch in meinem Herzen. Zwar war niemand
gestorben, Gott sei es gedankt! Aber meine Beziehung war am Ende und hatte rein
gar nichts zurückgelassen – keine Wut, keine Enttäuschung, keinen Hass.
Stattdessen hatte sich über alles eine erstickende Gleichgültigkeit gelegt und
sämtliche Spuren verwischt, so dass nicht einmal mehr mein Kummer einen Weg
zurück zu Jonas finden konnte. Gänzlich unfähig, uns gegenseitig zu trösten,
haben wir nach unserer Trennung kein Wort mehr miteinander gewechselt, und an
die Stelle der notwendigen Trauerarbeit trat ein Gefühl quälender Ungewissheit:
Was war mit unserer Beziehung eigentlich passiert? Lebte sie vielleicht noch,
anderswo? Ging es ihr gut? Brauchte sie Hilfe? Wollte sie gefunden werden? Seit
dieser Zeit kann ich in etwa nachvollziehen, wie sich Menschen fühlen, deren
Partner, Kind oder Elternteil vom einen auf den anderen Tag verschwunden ist.
Irgendwann bettelst du nur noch darum, Gewissheit zu haben, und sei es auch die
Schlimmstmögliche. Aber dann weißt du wenigstens Bescheid, weißt, woran du
bist, und kannst dein Leben endlich weiterleben.
Im Moment
erscheint es mir geradezu lächerlich, über ein neues Leben, geschweige denn
eine neue Liebe, überhaupt nachzudenken. Das wäre ja so, als ob ein Arzt nach
einem schwerwiegenden Kunstfehler frohgemut wieder ans Werk ginge, ohne
wenigstens kurz nachgeschlagen zu haben, wie man es beim nächsten Mal
bitteschön richtig macht. Als ob sich der Umstand, dass Jonas und ich kein richtiges
Ende hatten, dadurch ausgleichen ließe, dass Max und ich keinen Anfang
besitzen. Dass wir einfach mitten rein gesprungen sind…
Ich kicke einen
einsamen Kiesel zurück ins Kiesbett. Sicher, vielleicht hätte Max sich fürs
Erste damit zufrieden gegeben, unser Verhältnis durch Fragebögen über
Familienstand, Vorlieben und schlechte Angewohnheiten zu intensivieren. Aber
wahre Intimität entsteht anders! Sie muss wachsen. Sie muss zugelassen werden.
Dass unsere Körper bereits zehn Schritte vorausgeeilt sind, während unsere
Seelen noch unschlüssig am Start herumlungern, macht die Sache dabei nicht
gerade einfacher.
Ein Seufzer
entfährt meinen zusammengepressten Lippen. Muss denn alles so verdammt
kompliziert sein? Früher war es bei Liebesfilmen so, dass der erste Kuss den
definitiven Höhepunkt bildete. Darauf wurde hingearbeitet, das hielt die
Zuschauer und Protagonisten in Atem. War er da, konnte man sich diskret
schmachtend zurückziehen. Abblende. Happy End. Heutzutage dagegen herrscht
verkehrte Welt, egal ob in Hollywood mit Hugh Grant oder in Babelsberg mit Til
Schweiger. Erst Sex, dann Liebe, Abblende. Happy End? Irgendwie verunsichert
mich diese neue Form der Romantik. Betrügt sie einen nicht um die ursprüngliche
Idee, die hinter jeder Liebesgeschichte steckt? Oder bin doch am Ende ich es,
die sich mit ihrer Sturheit um alles betrügt?
Nachdenklich gehe ich zum letzten Grab der Reihe. Es ist wie immer hübsch
gepflegt, trotz der Jahreszeit. Das Foto mit dem breiten Kinderlachen strahlt
mit den von Sonne beschienenen Astern um die Wette, und ich muss erst ein paar
Gestecke zurechtrücken, um für mein eigenes kleines Tannenherz Platz zu finden.
Dann verharre ich ein paar Minuten in absolutem Gedankenschweigen, was sich
extrem befreiend anfühlt, ehe ich mich stumm verabschiede und wieder auf meinen
Weg mache.
Eines steht fest: Um
herauszufinden, wer hier wen um was betrügt, muss ich mich zuerst einmal um die
ganzen anderen Baustellen kümmern, aus denen sich mein Leben
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