Liebe 2.0
versehentlich an eine Gitarre, die jaulend gegen ein verstaubtes Keyboard
fällt. (Unnötig zu erwähnen, dass beide Instrumente aus Mamas „Ab heute mache
ich jeden Tag Musik“-Phase stammen.)
„Schhhhht…!“
Mich trifft ein strafender Blick, ehe Mama die Treppe hinunter zu meinem Vater
eilt. „Clara schläft schon!“, ermahnt sie auch ihn zischend.
„Ach, als ob die
von irgendetwas wach wird!“, gibt sich mein Vater ungerührt und brüllt in
Hörsaal-Lautstärke weiter, obwohl ich mittlerweile ebenfalls unten angekommen
bin. „Wie geht es dir, Schätzchen, lass dich ansehen!! Gut siehst du aus!!!“
Na bitte, es geht doch!
Kurz darauf
sitzen wir drei mit einem Glas Wein am Esstisch und leisten Papa bei seinem
Nachtmahl Gesellschaft. Wir reden nicht viel, aber das ist auch nicht nötig.
Stattdessen betrachte ich meine Eltern unauffällig, und was ich sehe, macht
mich sehr glücklich. Beide wirken gesund und munter. Etwas abgekämpft
vielleicht, dem Lebensalter und der Tageszeit geschuldet, aber dennoch. Papas
Bart und Haare sind mittlerweile schlohweiß geworden, doch der Sigmund Freud-Look
steht ihm. Und was Mama betrifft, so hat ihr Körper nach Claras Geburt eine
Weichheit erlangt, die ich in meiner eigenen Kindheit stark vermisst habe. Bis
vor elf Jahren war meine Mutter ein regelrechtes Arbeitstier, diszipliniert und
durch und durch organisiert. Aber dann, gerade als sie in ihrer Firma voll
durchstarten wollte, kündigte sich mit einem Mal Clara an. Ein klitzekleiner
Fehler im System – mit immensen Folgen. Und so hat sich auch Mamas Lebensplan
auf einen Schlag total geändert. Vollbremsung, Schleudertrauma… wir kennen das
ja schon. Aber es war zu ihrem Besten. Zu unser aller Besten. Ihre neue
Gelassenheit hat mich meiner Mutter trotz zunehmender räumlicher Distanz in den
letzten Jahren viel näher gebracht als die zwanzig Jahre zuvor gemeinsam unter
einem Dach. Wenn doch jede Kursänderung so gut ausginge!
Zwanzig
Wie es sich für einen Urlaubstag
gehört, habe ich heute erst ausgeschlafen und bin dann gemächlich zum
Marktplatz spaziert. Hier sitze ich nun und halte mein Gesicht in die Sonne,
die sich keinen deut darum zu scheren scheint, dass der Oktober bereits langsam
aber sicher seinem Ende entgegengeht.
Ich mag unseren Marktplatz. Er ist so klein, dass man ihn mit circa
hundert Schritten überqueren kann, aber er hat Bäume, Bänke, einen hübschen
Brunnen und ein Glockenspiel, das zu jeder vollen Stunde schrill über die
gesamte Innenstadt läutet. Während dann sämtliche Fensterscheiben zur Melodie
von Im Frühtau zu Berge leise klirren, gehen zwei kleine Türchen auf,
und auf der linken Seite kommt ein alter Hirte mit grünem Kittel heraus, auf
der rechten Seite dagegen ein auffallend bunt gekleideter Kaufmann. Beide
treffen sich in der Mitte, um ein Geschäft über ein Schwein abzuschließen: Sie
reichen sich unter leichtem Ruckeln ein paar Mal die Hände, und danach geht
jeder zufrieden wieder dorthin, wo er hergekommen ist. Dass der Kaufmann das
Schwein aus technischen Gründen bereits über der Schulter trägt, bevor er es
überhaupt bezahlt hat, ist dabei nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass hier
jedes Kind schon von klein auf lernt, dass ein Handschlag bindend ist und dass
man auf dem Land zu seinem Wort steht. Und das kommt an! Im Sommer scharen sich
stündlich die Buggys, Bobbycars und Dreiräder vor dem Glockenspiel, und
sobald es los geht, verfolgen die kleinen Fahrer das Geschehen mit einer
Begeisterung, die alle 3D-Kino-Abenteuer abstinken lassen.
Als nostalgische Einheimische und
Wochenend-Touri doppelt verpflichtet, warte auch ich erst das 12-Uhr-Schauspiel
ab, ehe ich mich auf den Weg zu Claras Schule mache, um sie abzuholen. Damit
ich nicht dennoch viel zu früh da bin, gehe ich noch einen kleinen Umweg. (Ehrlich
gesagt kann ich kaum nachvollziehen, wozu die Leute auf dem Dorf überhaupt ein
Auto brauchen, so nah wie alles beieinander liegt. Aber andererseits hat man
wohl gerade bei einer solchen Enge ein umso stärkeres Bedürfnis, ab und zu mal
raus zu kommen, und sei es auch nur zu McDonald’s .)
Ich gebe zu,
allzu viel hat so ein Dorf seinen heranwachsenden Bewohnern nicht zu bieten.
Aber man arrangiert sich. Ein Kinobesuch wird gleich doppelt so aufregend, wenn
man zuerst mit dem Bus in den Nachbarort fahren muss. Und als wir als Teenager
ein paar Mal samstags mit dem Gruppenticket der Deutschen Bahn ohne
Eltern ins fünfzig Kilometer entfernte
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