Liebe 2.0
Prinz Charmings Pferdeschlitten
eingeläutet wurde, schöpfte ich in diesen Nächten doch immerhin soviel neue
Energie, dass ich mich eines Tages mit Kartons und Müllsäcken bewaffnete, um im
Gruselkabinett klar Schiff zu machen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten
ins Kröpfchen… Eben ganz wie im Märchen. Nur das Happy End lässt auf sich
warten.
Auch Belle und ihr verzauberter
Blaublüter haben längst noch nicht alle Strapazen überstanden, als das
Gegnurbsche neben mir verstummt und durch leises Schnarchen ersetzt worden ist.
Erstaunt drehe ich mich zur Seite. Na so was! Da pennt Clara doch glatt vor dem
großen Finale weg!
Vorsichtig schnappe ich mir eine Ladung Decken und wuchte sie aufs Bett,
ehe ich das Gleiche mit der kleinen Schnarchnase mache. Die bekommt von alledem
nicht das Geringste mit, und da man schlafende Hunde bekanntlich nicht wecken
soll, nutze ich die Gelegenheit und stehle mich leise aus dem Zimmer, um mich
endlich um meine Mutter zu kümmern.
Ich brauche Mama gar nicht lange zu
suchen, denn sie sitzt im Zimmer nebenan in einem Schaukelstuhl und löst ihre
heiß geliebten Kreuzworträtsel. Pro forma klopfe ich an den Türrahmen und will
auch schon eintreten – aber das ist gar nicht so einfach. Mamas so genanntes ‚Büro’
ist nämlich in Wahrheit ein kunterbuntes Spielzimmer, das dringend die ordnende
Hand einer Mary Poppins bräuchte. Ihr Schreibtisch wird von hunderten Origami -Kranichen
belagert, als moderiere sie ab nächster Woche die Hobbythek ; ich wette, unter
all dem bunten Papiergetier liegt irgendwo noch die Telekom -Rechnung von
vor zehn Jahren, die Mama angeblich nie erhalten hat und deren Zahlungsverzug
uns eine Woche ohne Telefon beschert hat… Neben dem Schreibtisch steht ein
baufälliges Sideboard, dessen linke Tür halb geöffnet ist und eine mittelgroße
Plattensammlung auf den Teppichboden erbricht. Auf dem Sideboard wiederum
buhlen unzählige Puppen und Teddybären um die Gunst des Betrachters, dessen
Auge jedoch viel zu abgelenkt ist von dem aufblasbaren T-Rex, der mitten im
Zimmer auf einem Heimtrainer steht und so aussieht, als würde er jede Sekunde
mit dem Cardio-Programm loslegen wollen. (Mama hatte das Gerät vor drei Jahren
in einer ihrer „Ab heute mache ich jeden Tag Sport“-Phasenim
Versandhaus bestellt. Doch als es hier ankam, war der gute Vorsatz trotz
24h-Lieferservice auch schon wieder vergessen. Warum jetzt allerdings
stattdessen der T-Rex schwitzen muss, kann ich nicht sagen. Vielleicht fand
Mama im Geschäft, dass er etwas Bewegung nötig hätte, und hat ihn deshalb
gekauft. Zuzutrauen wär’s ihr.)
„Na, ist der
Film schon vorbei?“ Meine Mutter lächelt mich über ihre Lesebrille hinweg an
und klopft einladend auf den unter zahlreichen Illustrierten begrabenen
Fußschemel neben sich. Mama liebt Klatsch mindestens genauso sehr wie ich,
würde es aber niemals zugeben. Angeblich kauft sie die Zeitungen nur wegen der
Kochrezepte. – Na klar, und Tristan kauft den Playboy wegen der Reportagen.
„Die
Nachwuchs-Cineastin ist einfach eingeratzt“, sage ich, während ich versuche,
mir einen Parcours zwischen den zahlreichen Büchern zu suchen, die keinen Platz
mehr in den mit leere Parfumflakons, alten Fotoapparaten, Modellautos und
Überraschungseifiguren überbordenden Regalen gefunden haben, und die deshalb in
unterschiedlich großen Stapeln aus dem Fußboden wachsen. Ich komme mir ein
bisschen vor wie im Verrückten Labyrinth , als ich mich zwischen
einsturzgefährdeten Wolkenkratzern aus Patricia Shaw-Wälzern und Susanne
Fröhlich-Taschenbüchern durchwurschtele. Doch am Ende schaffe ich es
unbeschadet und auf direktem Weg zur kindlichen Kaiserin.
„Tut mir leid,
dass ich dich so lang alleine gelassen habe“, sage ich, während ich betont
sorgfältig die Zeitschriften zusammensuche und neben den Schemel lege, wo sie
direkt mit ihrer Umgebung verschmelzen.
Meine Mutter
winkt ab. „Machst du Witze? Ein Abend ohne die Krabbe ist das schönste
Geschenk, das du mir machen konntest. – Aber jetzt sag doch mal, wie geht es
dir denn überhaupt? Du siehst wirklich nicht so doll aus…“
Bevor ich mich
sarkastisch für das Kompliment bedanken kann, hören wir, wie sich unten ein
Schlüssel im Schloss dreht und mein Vater nach Hause kommt. „Julia, Liebes!!!“,
dröhnt es durch den Flur, als er meinen Mantel an der Garderobe hängen sieht,
und wie dressierte Pudel springen Mama und ich gleichzeitig auf. Dabei stoße
ich
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