Liebe 2.0
viele Dinge du im Leben bereits
erreicht haben magst. Wenn du dorthin zurückkehrst, wo du deine ersten Schritte
gemacht hast, ist jeder Schritt darüber hinaus irrelevant. (In meinem Fall mag
das vielleicht auch daran liegen, dass sich in dem Dorf, in dem ich
aufgewachsen bin, seit meinen ersten Gehversuchen kaum etwas verändert hat: Ob
in dem Ladenlokal neben der Eisdiele nun Strümpfe oder Handys verkauft werden,
wiegt letztlich gering gegenüber dem Umstand, dass ich beim Fleischer auch Jahrzehnte
nach dem letzten ‚Scheibchen Wurst’, das mir von der Theke in den Kinderwagen
gereicht wurde, noch geduzt werde. Nestwärme total!)
Zugegeben: Diese
Seifenblasenidylle, die sich zwischen mich und das echte Leben schiebt, sobald
ich nach Hause komme, klingt zu schön um wahr zu sein – und ist es leider auch.
Das hat mir spätestens mein letzter heimischer Reha-Aufenthalt nach der
Trennung von Jonas schmerzlich bewusst gemacht. Doch obwohl ich es eigentlich
besser weiß, so bleibt sie trotzdem immer da, die tröstende Vorstellung einer
heilen Welt, die dir jederzeit Asyl gewährt. Und auch wenn meine Eltern keine
Wunder vollbringen können, so tun sie doch ihr Möglichstes, mir gut zu tun. Und
diese unbedingte Liebe, verbunden mit dem bedingten Wahnsinn von
Familienbanden, ist genau das, was ich jetzt brauche!
Achtzehn
Auf dem Weg von der Bushaltestelle
zur Stadtvilla meiner Eltern laufen mir bereits mein ehemaliger Babysitter, die
Bäckereiaushilfe und unsere alte Nachbarin zur Linken über den Weg. Es ist
nahezu unmöglich, meine Eltern mit einem Besuch zu überraschen, denn aus Mangel
an Alternativen verbreiten sich hier selbst die unspektakulärsten Nachrichten
wie ein Lauffeuer. Kaum dass ich um die letzte Ecke biege, fliegt auch schon
die Haustür auf, und meine kleine Schwester kommt auf mich zugewetzt.
„Juliaaaaa!“
Kreischend fällt mir etwas in die Arme, das exakt so aussieht wie ich vor
siebzehn Jahren, und sofort sind Max, der Sender und ein böser Streit mit Sven
kurz vor Feierabend weit, weit weg.
„Hallo mein
Schatz!!!“ Ich quetsche meine Schwester an meine Brust und gerate dabei
gefährlich ins Taumeln. Kein Zweifel, die Kleine wird auch immer größer.
„Mama hat das
Essen schon fast fertig. Aber vorher muss ich dir unbedingt mein Zimmer
zeigen. Komm! Na komm!!! “ Energisch zieht Clara mich zum Haus, als
müsste ich erst groß überredet werden, mich mit Mamas großartigem Nudelauflauf
voll zu stopfen und in der rosaroten Welt von Prinzessin Lillifee Mittagsschlaf
zu halten. Zufrieden folge ich meinem Mini-Me in eine bessere Welt.
„Maaaaam?!“,
rufe ich durch den Hausflur. Typische Tochterrolle. Ich sag’s ja: Gelernt ist
gelernt. Aber mal abgesehen davon ist diese Art der Begrüßung schlichtweg die
beste Taktik, um herauszufinden, in welcher Ecke des Hauses sich meine Mutter
gerade herumtreibt, während der Römertopf im Ofen brutzelt. Ganz nach dem Motto
„Hänschen, piep mal!“ Vielleicht spielen wir später ja auch noch Topfschlagen
und Eierlaufen.
„Hallo mein
Kind!“ schallt es da auch schon aus der Etage über mir. Auch meine Mama hat das
Muttertier noch voll drauf. Aber gut, sie wird von Clara schließlich auch noch
genügend gefordert. Eigentlich war die Familienplanung nach meinem Bruder und
mir längst abgeschlossen, als sich plötzlich und unerwartet der Nachzügler
Clara angemeldet hat. (Auch wenn mir noch heute schleierhaft ist, wie ein
derartiger ‚Unfall’ sich ausgerechnet in einem Arzthaushalt ereignen kann! Aber
das ist wohl Ironie des Schicksals.)
Clara hält meine
Eltern ganz schön auf Trab, insbesondere meine Mutter. Mit fast schon
jugendlichem Elan kommt sie gerade die Treppe heruntergewieselt, und wenn Clara
mein kindliches Ebenbild ist, so gleicht der Blick in das Gesicht meiner Mutter
dem in eine Glaskugel, die meine Zukunft verrät – zumindest in optischer
Hinsicht. Ihre kurzen roten Haare sind nicht mehr ganz so leuchtend und kräftig
wie meine, und ihr Gesicht besitzt neben den vielen Lachfalten auch so manche
Kummerfurche. Doch sobald sie lächelt, strahlen ihre Augen wie an ihrem
Hochzeitstag vor vierunddreißig Jahren, und ich kann bei aller Eitelkeit sagen,
dass mir solche Aussichten gefallen.
Mama gibt mir
einen Kuss. „Schön, dass du es zum Essen geschafft hast. Dein Vater ist noch an
der Uni und kommt erst spät nach Hause, aber dafür muss er am Freitag gar nicht
hin. Und Tristan kommt morgen Abend, dann sind wir endlich
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