Liebe 2.0
Interview mit einer wirklich reizenden Kollegin von
Ihnen. Aber ob man sich wieder sieht? In einem Buch ist das kein Problem, im
Gegenteil: Es ist vorgeschrieben, ja direkt Schicksal. Aber in der Realität? Da
müssen wir den Stift schon selbst in die Hand nehmen, um unsere Geschichte zu
einem guten Ende zu schreiben. Ein Lächeln hier, eine Telefonnummer da…“
Meine Wangen
brennen.
„… Dabei
sollten wir keine Furcht haben, auch mal die ein oder andere nicht so gelungene
Episode zu verzapfen. Das passiert, ist aber kein Beinbruch. Viel schlimmer
wäre es, vor lauter Zaudern die ganze Zeit auf das leere Blatt vor sich zu
starren und überhaupt nichts zu unternehmen. Mut ist wichtig. Vertrauen in sich
selbst ist wichtig. Damit wir zumindest versuchen, unser Leben selbst zu
lenken…“
Während der letzten Minuten hat
Egger die Moderatorin mit seiner rauen Stimme und den betörenden Grauaugen
sichtlich beeindruckt. Wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt sie da und wagt
es kaum, zu atmen, was aus sicherer Entfernung recht lustig aussieht.
„Weibergewäsch!“,
motzt mein Vater.
„Schhht!!!“, zischen Mama, Clara und ich.
„– Dann ist
schon die Hälfte gewonnen. Oder was meinen Sie?“
Jetzt dreht Egger sich von seinem
Opfer weg und zwinkert direkt in die Kamera, was meinem Vater ein Schnauben
entlockt, mir dagegen einen vorübergehenden Herzstillstand verpasst. Es ist
eine so verschwörerische, intime Geste, dass ich fast nicht anders kann, als
mich direkt angesprochen zu fühlen. Dabei weiß ich genau, dass das Schwachsinn
ist! Doch so oder so: Die Frage steht im Raum, sei sie nun an mich allein oder
an hunderttausend andere Zuschauer adressiert.
Was die restlichen drei Zuschauer in diesem Raum anbelangt, so zeigen sie
sich von soviel Lebensweisheit relativ unbeeindruckt. Sobald das Interview nach
dem üblichen „Danke, dass Sie hier waren – Gerne doch!“-Geplänkel beendet ist,
lässt Papa wiederholt ein beleidigtes Schnauben vernehmen, während Clara in
ihren Bieber-Modus zurückfällt. Mama dagegen schaltet seufzend den Fernseher
aus und sagt, sie müsse jetzt mal in die Küche gehen, Tristan käme schließlich
jede Minute. Ob sie deshalb seufzt, weil ihr geliebter Sohn endlich mal wieder
nach Hause kommt und sie aus diesem Grunde gleich drei Fertigsalate (Nudeln,
Krabben und Fleisch) aus der Plastikpackung in eine Schüssel klatschen muss,
oder aber vielleicht doch eine andere, unerkannte Sehnsucht dahinter steckt,
kann ich nicht sagen. Und ehrlich gesagt will ich es auch nicht wissen.
Immerhin reden wir hier von meiner Mutter.
Keine halbe Stunde später steht
Tristan im Wohnzimmer, ohne dass irgendwer ihn hätte kommen hören. Ich habe
keine Ahnung, wie er das macht, aber er war als Kind schon gut darin, seine
ältere Schwester in diversen Anschleichmanövern fast zu Tode zu erschrecken.
„Triiiistan!!!!“
Clara liebt ihren großen Bruder mindestens so sehr wie mich, und das, obwohl er
sie stets aufzieht. Aber das gehört wohl zu den vielen kleinen
Eingeständnissen, die Mädchen gegenüber Jungs bereitwillig machen, wenn sie
dafür im Gegenzug etwas Aufmerksamkeit erhalten. – Es ist schon faszinierend,
wie viele Kröten eine Frau in ihrem Leben schluckt, um eines Tages vielleicht
doch noch ihren Froschkönig zu küssen. Sollte dieses Verhalten am Ende auf
frühkindliche Prägung zurückzuführen sein? Wenn ja, so muss ich unbedingt ein
ernstes Wort mit Tristan reden. Vielleicht ist es für Clara ja noch nicht zu
spät.
Zweiundzwanzig
Kurz darauf sitzen wir alle bei
einem späten Abendessen und stecken mitten im ersten Familiendisput. Und obwohl
Tristan nach der vollen Uni-Woche und der langen Fahrt recht abgekämpft wirkt,
mobilisiert er all seine verfügbaren Streitkräfte gegen die Armada von
elterlichen Vorurteilen.
„Aber ich sage
doch gar nicht, dass ich mein Studium abbreche! Im Gegenteil!“ Tristan haut
fast mit seinem Besteck auf den Teller, so energisch will er sein Territorium
verteidigen. „Wenn ich die Möglichkeit, nach Kanada zu gehen, jetzt wahrnehme,
habe ich später auf dem Arbeitsmarkt viel größere Chancen! Das ist eine
einmalige Gelegenheit, die mir Professor Jürgensen da bietet. Praktisches
Arbeiten in einer Großbank, Auslandserfahrung, Networking! – Ich meine: Das ist
doch fantastisch! Ende des Jahres kann ich rüber fliegen, und nach einem Jahr
studiere ich weiter.“
„Und was ist mit
dem Geld?“, fragt mein Vater.
„Und
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