Liebe 2.0
was ist mit
Weihnachten?“, fragt meine Mutter.
Und ich frage
mich, welche Frage ich bescheuerter finde. Während man Mama noch das
kurzsichtige Muttertier zugute halten kann, ist der erhobene Zeigefinger meines
Vaters angesichts seiner C4-Professur absolut lächerlich. Nichts als plattes
Patriarchengehabe, um gegenüber dem zweiundzwanzigjährigen Sohn auf seinen
Alphastatus zu pochen. Zwar sind wir nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren
worden. Aber bei uns musste (glücklicherweise) auch nie groß aufs Geld geachtet
werden. Ich weiß noch genau, was für Augen meine Freundinnen machten, wenn sie
früher über Nacht blieben und feststellten, dass es bei uns zum Frühstück immer Eszet -Schnitten gab. Jeden Tag. Soviel man wollte! Dabei sind die Dinger
richtig teuer! Seit ich alleine lebe, gibt es bei mir Brotschokolade nur noch
am Wochenende und an hohen Feiertagen!
Auch Tristan
irritiert der neue Sparkurs meines Vaters. Doch er hat sich schnell wieder
gefangen und antwortet mit der feinen Arroganz aller Wagner-Männchen. „Das soll
nun wirklich nicht euer Problem sein. Professor Jürgensen lässt meine
Hilfskraftstelle weiterlaufen, und den Flug kriege ich aus Drittmitteln
finanziert. Bis auf den normalen Zuschuss in Höhe meines Kindergeldes habt ihr
also keine weiteren Umstände.“ Er wendet sich an meine Mutter „Und auch die
Sache mit Weihnachten kriegen wir schon geregelt. Wenn ich mich früh genug um
alles andere kümmere, kann ich sicher noch den Heiligabend hier mit euch
verbringen. Schließlich will ich mich doch gebührend verabschieden!“
Ich betrachte
Tristan voller Stolz. Zwar hat er glücklicherweise nicht die roten Haare meiner
Mutter geerbt, dafür aber ihren spät entwickelten Familiensinn. Ansonsten ist
er einen Kopf größer als ich und sieht mit seinen blonden Locken und den roten
Wangen ein bisschen so aus, als sei er einem Astrid Lindgren-Film entsprungen.
Er ist relativ schlank und ungemein witzig, was man seinen schalkhaften Augen
selbst dann ansieht, wenn er mal nicht zum Spaßen aufgelegt ist – so wie jetzt.
Und er ist klug. Sonst würde man ihm nicht eine solche Chance bieten. Aber das
werden meine Eltern nach dem ersten Schock auch noch merken. Sie sind halt
nicht mehr die Jüngsten und brauchen manchmal ein bisschen länger.
„Versteh uns
bitte nicht falsch“, lenkt meine Mutter da auch schon ein und hebt
beschwichtigend die Hand. „Wir wollen ja nur sichergehen, dass du nicht
leichtfertig aufs Spiel setzt, was du bislang erreicht hast. Es ist ja schön,
dass du deine Schwester magst, aber du musst ihr ja nicht in allem nacheifern…“
„Ey!!!“, werfe
ich ein. So froh ich bin, dass meine Eltern von Tristan ablassen, so ist das
doch noch lange kein Grund, sich ein neues Opfer zu suchen. Und dann auch noch
so unerwartet und aus dem Hinterhalt heraus! Obwohl die Wagners für ihre
Bissigkeit bekannt sind, macht mich der jähe Affront sprachlos, was Mama die
Möglichkeit gibt, unbeirrt fortzufahren. Mit einem Mal verwandelt sie sich von
Dr. Jekyll in Mr. Hyde und erinnert mich ungut an die Mutter, die in der Ära v.
C. (vor Clara) ihr strenges Regiment geführt hat. Es bricht förmlich aus ihr
heraus, und ich kann nichts weiter tun, als eingeschüchtert zuzuhören.
„Nun komm schon!
Meinst du etwa, dass dein Lebenswandel in diesem Jahr sonderlich vorbildlich
war?“, ereifert sich Mama. „Alles über den Haufen zu werfen, auf das man
jahrelang hingearbeitet hat! Und dann auch noch mit einem solchen Paukenschlag!“
Eindringliche Blicke. „Du hast so erfolgreich studiert – und dann das
Volontariat bei der Gazette ! Mit Kusshand hätten die dich damals
übernommen, ich hab doch das Zeugnis gelesen! Aber du schmeißt alles hin und
trittst mit Füßen, was man dir anbietet. Weil du dich plötzlich zu vermeintlich
Höherem berufen fühlst! Phhh!“
Ich schnappe
nach Luft, aber es kommt kein Ton heraus. Egal. Meine Mutter ist eh noch nicht
fertig mit mir.
„Und mit Jonas
war es auch nicht anders! Die Hochzeit abzusagen, drei Tage vorher! Alles war
geplant, alles war bereit. Das Standesamt, die Kirche, der Festsaal, die
Gästeliste, das Brautkleid… Und dann, kurz vor knapp, heißt es plötzlich:
Kommando zurück! Wir haben es uns anders überlegt. Einfach so. Und der ganze
Aufwand, die ganze Zeit, das ganze Geld… Alles für die Katz!“
Alles für die
Katz . So fasst meine Mutter also zusammen, was für mich das Ende der Welt
bedeutet hat. Nicht schlecht.
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