Liebe 2.0
Vielleicht überlegt sie es sich nach Claras
Abitur noch einmal und kehrt in ihre Werbetextfirma zurück. Die würden ihre
präzise Schlagfertigkeit sicher zu schätzen wissen!
Ich bin ja echt nicht
auf den Mund gefallen, aber jetzt bleibt mir doch die Spucke weg. Tristan
starrt meine Mutter entgeistert an, Clara rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin
und her, und mein Vater löffelt als Einziger verlegen seinen Fleischsalat. Wir
haben so noch nicht über die Ereignisse im letzten Frühling gesprochen, und
auch wenn sich wohl nie die ideale Gelegenheit ergibt, so scheint mir der
jetzige Zeitpunkt komplett ungeeignet. Später vielleicht, in tausend Jahren,
wenn ich darüber lachen kann, wie naiv ich war und wie ernst ich mein Leben und
alles darin genommen habe. Aber nicht heute Abend, wo ich mich sogar zu schwach
fühle, eine Gabel mit matschigen Kartoffeln zum Mund zu führen, geschweige denn
eine Verteidigung aufzubauen. Zum Glück sind Tristans Truppen, die sich gerade
erst zur wohlverdienten Waffenruhe zurückgezogen haben, immer noch heiß und nur
zu gern bereit, hervorzupreschen und einer Lady in Nöten beizustehen. „Mama,
bitte, was soll das denn jetzt? Du tust ja gerade so, als habe Julia das
alles mit Absicht inszeniert. Und am besten nur, um dich zu ärgern!“
Meine Mutter
wirbelt zu ihm herum, nicht bereit, sich vorzeitig geschlagen zu geben. „Darum
geht es doch gar nicht!“, ruft sie empört. Empört? Sie ist empört? „Und
ich behaupte ja auch nicht, dass es mir keinen Spaß gemacht hat, das alles mit
zu organisieren. Aber wenn man mit seiner Tochter ein Brautkleid aussucht,
macht man das normalerweise mit der Aussicht, sie am Tag ihrer Hochzeit darin
zu sehen. Hätte ich gewusst, dass Julia an besagtem Datum stattdessen im
Jogginganzug apathisch auf dem Sofa sitzt und HSE24 schaut, ohne auch nur ein
Wort der Erklärung abzugeben, hätte ich mich vielleicht darauf einstellen
können. Aber so!?“ Meine Mutter kommt jetzt richtig in Fahrt. „An wem blieb das
Ganze denn schlussendlich hängen? Wer durfte die halbe Welt anrufen, um zu
verkünden, dass die Hochzeit abgesagt ist? Ihr habt ja keine Vorstellung, wie
unangenehm das war!“
Ich glaube, ich
habe mich verhört. Unangenehm? Unangenehm ??? Doch meine Mutter scheint
an ihrer Wortwahl nichts Verwerfliches zu finden, sondern listet stattdessen
akribisch auf, wer alles auf ihrer Telefonliste des Grauens stand.
„Da waren der
Pfarrer, die Standesbeamtin, der Bäcker, die Fotografin, die Floristin, die
Friseuse, der Caterer… – nicht zu vergessen die Familie, unsere ganzen Freunde
und Nachbarn!“
„Herrgott, Mom,
du tust gerade so, als habe Julia eine Hochzeit in den Dimensionen des
schwedischen Königshauses abgesagt! Fehlt nur noch, dass du den Papst
persönlich wieder ausladen musstest!“ Tristan schüttelt den Kopf.
Tatsächlich wollten
Jonas und ich unsere Zweisamkeit im kleinen Kreis feiern – ein Entschluss, über
den ich jetzt ein weiteres Mal froh bin, denn den Schuh brauche ich mir
nun wirklich nicht anzuziehen. Viel stärker beunruhigt mich dagegen die
Tatsache, dass mein berufliches Versagen nur eine Randnotiz wert scheint,
während Mamas Hauptanklage sich nunmehr allein auf die geplatzte Hochzeit
richtet. In meinem leergefegten Kopf höre ich auf einmal die Stimme meiner
Nachbarin Sabine, die schon mit zarten fünfundzwanzig Jahren promovierte
Chemikerin war. „Natürlich ist meine Familie stolz auf mich“, hat sie mir
letztens im Flur erzählt. „Aber was sie wirklich glücklich gemacht hat, war
meine Hochzeit vor einem Jahr. Sahnetorte und Sektempfang – das ist in der
Elternwelt eine anerkannte Währung, damit kann man vor den Nachbarn punkten.
Aber eine Doktorurkunde? Die ist gerade einmal ihren Papierpreis wert.“ Während
Sabine gelassen die Achseln zuckte, war ich, gelinde gesagt, schockiert. Und
jetzt muss ich erkennen, dass meine eigene Mutter genauso tickt!
„Was glaubt ihr,
wie die Leute hier geredet haben, als es die Runde machte, dass Jonas und Julia
sich getrennt haben? Das Dorftraumpaar?“, klagt Mama weiter. Und bevor ihre
brüchig werdende Stimme endgültig desertiert, holt sie zum letzten,
entscheidenden Schlag aus: „Nicht nur, dass ich mit ansehen musste, wie der
schönste Tag meines Lebens einfach abgesagt wurde! Aber dieses Getuschel hinter
vorgehaltener Hand, als würde ich es nicht merken. Diese ganzen Gerüchte und
Mutmaßungen! Und ich kann nur lächeln und die Zähne zusammenbeißen. Und
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