Liebe 2.0
knacken; den
süßen Geschmack der noch unreifen Nuss; und die mahnende Stimme von Steffis
Mutter, wir würden noch furchtbare Bauchschmerzen bekommen. (Was nie eintrat.
Selbst dann nicht, als Steffi einmal statt einer Nuss einen Ohrenkneifer
verschluckt hatte.)
Uns wurde nie
langweilig. Wir spielten Knight Rider und A-Team , kochten
Zaubertränke aus Beeren, Tannennadeln und Löwenzahn, verkleideten uns als Rockstars
und träumten davon, endlich erwachsen zu werden… Und dann wurde Steffi
plötzlich krank. Leukämie. Und dann ging alles furchtbar schnell. Das ganze
Dorf fieberte mit, als es darum ging, nach einem geeigneten Spender zu suchen,
und jeder, der konnte, ließ sich registrieren. Aber weder hier noch sonstwo
konnte Steffi geholfen werden. Wir alle waren gezwungen, zuzusehen, wie sie
weniger und weniger wurde, schwächer und schwächer, bis sie eines Tages von uns
Abschied nahm. Mit letzter Kraft lächelte sie uns an, als wollte sie sagen: Es
ist okay so. Fragt mich nicht, warum. Aber es ist okay. Und dann ging sie
fort.
Ich weiß nicht,
ob mir jemals wieder jemand so souverän vorgekommen ist wie Steffi, so selbst beherrscht
und stark, während wir anderen hilflos daneben standen und nicht wussten, wie
wir weiterleben sollten. Ausgerechnet dieses kleine ausgemergelte Mädchen
zeigte dem Rest der Welt, was wahre Größe ist – so ein Widerspruch will erst
einmal verstanden werden! Und ich verstand ihn nicht, so gern ich auch wollte.
Stattdessen wurde ich selber krank: Magersucht, Anorexia nervosa. Es erscheint
mir noch immer frevelhaft, meine eigene Gesundheit derart aufs Spiel gesetzt zu
haben, nachdem ich gesehen hatte, wie meine Freundin ohne jede Wahl ihr Leben
hingeben musste. Aber die Seele ist ein weites Feld, und man schlittert in so
etwas schneller hinein, als man glauben mag.
Menschsein hat seine Tücken. Wie einfach wäre es, wenn wir alle mit
Kalkül unser Leben planen würden. Alles verliefe in geregelten Bahnen,
berechenbar und bis ins kleinste Detail optimiert. Im Gegensatz zum
menschlichen Gehirn würde eine künstliche Intelligenz niemals auf die Idee
kommen, die Furcht vor dem Sterben dadurch zu überwinden, dass sie sich selbst
zerstört. Aber meine eigenen Schaltkreise waren nach der traumatischen Erfahrung
von Steffis Tod derart durcheinander geraten, dass ich es nicht ertragen
konnte, einfach stumm dazusitzen und abzuwarten, ob ich eines Tages vielleicht ebenfalls
weniger und weniger werde. Und so habe ich diesen Prozess in einem falschen
Verständnis von Selbstbestimmung schließlich selber eingeleitet. – Das alles
habe ich natürlich nicht selber herausgefunden. Es ist das Ergebnis zahlreicher
Therapiesitzungen, zu denen mich meine Eltern geschleppt haben, nachdem sie
merkten, dass an mich kein Herankommen mehr war. Und so bekam ich meine zweite
Chance. Eine zweite Chance, die Steffi nie hatte. Und die ich verdammt noch mal
nutzen will! Denn obwohl das Leben jenseits der Logik durchaus Gefahren birgt –
versteckt sich nicht auch an gleicher Stelle seine Pointe? Eben der Witz an der
Sache, der einem perfekt konstruierten Androiden wie Data vom Raumschiff
Enterprise auf ewig verborgen bleiben muss? Es ist wohl kaum rational zu
erklären, dass wir weinen, wenn wir ein bestimmtes Lied hören. Oder dass wir
lachen, wenn wir sehen, wie ein Kind Seifenblasen pustet und dabei vor
Begeisterung quietscht. Aber das ist doch der eigentliche Grund der Dinge! Selbst
wenn wir in der Theorie das vollkommene Dasein führen würden, so hieße das noch
lange nicht, dass wir das Leben in seiner Praxis verstanden haben.
Meine Finger fliegen über die
Tastatur, als ich versuche, Steffi wieder zum Leben zu erwecken. Mich zu
erinnern, was für ein Mensch sie war, und die Gefühle, die ich dabei empfinde,
in die richtigen Worte zu übersetzen. Aufzuspüren, was wirklich zählt. Im
Schnelldurchlauf erlebe ich unsere gemeinsame Zeit noch einmal, ein Konzentrat
wunderschöner Momente, das korrekt abgemischt genau so süß schmeckt wie die unreifen
Haselnüsse in unserem Kletterbaum. Und das Beste an der Sache ist: In meiner
Geschichte muss Steffi nicht sterben.
Als ich das
nächste Mal auf die Uhr gucke, zeigt sie 16 Uhr 47, und ich kann selber nicht
genau sagen, wo ich die letzten zwei Stunden gewesen bin. Es ist, als würde ich
aus einem schweren Traum erwachen – ich fühle mich einerseits befreit,
andererseits jedoch auch total erschöpft. Mein Hirn schmerzt wie ein
überanstrengter Muskel und
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