Liebe 2.0
den Bildschirm, der von lauter Satzfragmenten
durchzogen ist. Martin hat mir geraten, zunächst einmal mit kleinen
Schreibübungen anzufangen. Charakterskizzen etwa, Situationsbeschreibungen,
Gedankensplitter. Einfach, um ein Gefühl dafür zu kriegen, der Phantasie wieder
mehr Freiraum zu geben, ohne dass sie mir gleich davon schießt und ein
heilloses Durcheinander anrichtet.
„Das ist in etwa
so, als würdest du einen Hund dressieren wollen“, hat Martin mir während
unseres letzten Telefonats erklärt. „Den lässt du ja auch nicht einfach sofort
von der Leine, denn sonst rennt er weg oder pinkelt dir auf den Teppich oder
zerkaut deine Lieblingsschallplatten.“
„Schallplatten?“,
habe ich nachgefragt. „Mann, Martin, du bist echt alt!“
Beleidigte
Pause.
„Also, willst du
meinen Rat oder nicht?“
„Entschuldige,
na klar!“
„Nun, zumindest
musst du das Tier erst schrittweise an das gewöhnen, was du von ihm erwartest“,
dozierte Martin versöhnlich weiter, „step by step. Etwa Gassigehen: Erst bei
Fuß mit Leine, dann irgendwann ohne. Erst mit Leckerli Sitzmachen, dann ohne. Operantes
Konditionieren nennt man das. Und anders funktioniert dein Gehirn zuletzt auch
nicht. Du musst deinen Gedanken nur zeigen, wer der Boss ist. Dann lichtet sich
mit der Zeit auch das Chaos.“
Tja, wer ist
hier der Boss? Das ist in der Tat eine gute Frage! Momentan fühle ich mich ein
bisschen wie meine Tante mit ihrem so genannten Vier-Tage-Hund. Das war ein
furchtbar süßer Golden Retriever, dessen einziges Vergehen es war, sehr
verspielt und, wie sagt man, triebstark zu sein. Nach einem
Nervenzusammenbruch, zwei durchnässten Teppichen und drei durchbellten Nächten
hatte Tante Margot es drangegeben und den armen Kerl wieder zurück zum Züchter
gebracht. – Wie feige, sich derart aus der Affäre zu ziehen! Zumal es selten so
einfach ist. Selbst wenn ich wollte, so könnte ich mein Hirn doch kaum einfach
so umtauschen. Oder?
Ich stelle mir
vor, was ich als Reklamationsgrund angeben würde: denkt zu viel und zu wirr;
leidet unter Verfolgungswahn in Fitness-Clubs; hat ein Faible für Disney-Teeny-Idole;
spricht wildfremde Menschen an und zwingt sie, ihr etwas vorzusingen… Wahrscheinlich
müsste mir der Servicemitarbeiter noch einen zweiten Zettel geben, weil meine
ganzen Beanstandungen gar nicht auf einen draufpassen. Und am Ende hieße es
doch nur wieder, dass meine Garantie längst abgelaufen sei.
Nun, ist ja auch
egal. Denn ganz gleich, ob mein Verfallsdatum nun über- oder noch
unterschritten ist: Ich will ja gar nicht aufgeben! Dazu ist es viel zu
verlockend, auf kurz oder lang vielleicht doch das zu erfahren, wovon Martin
spricht. Nämlich dass das Schreiben mir zwar durchaus viel abverlangen, dafür
aber auch eine Menge zurückgeben kann. Und genau diese Aussicht hält mich am
Leben.
Leben .
Das ist es!
Plötzlich weiß ich, wohin ich meine Gedanken ausführen will. Und mit
einem Mal rennen wir ausgelassen durch den Garten meiner Schulfreundin Steffi. Es
geht vorbei an dem kleinen Gewächshaus, von dessen Decke herab staubige blaue
Weintrauben hängen, und über die heißen Steine der Auffahrt, deren Rollsplitt
zuerst empfindlich unter den nackten Sohlen piekt, bis wir uns am Ende des
Sommers eine solche Hornhaut angelaufen haben, dass jeder Fakir neidisch würde.
Wir springen über das betörend duftende Lavendelbeet, rennen bis zum anderen
Ende des mit viel Liebe gepflegten Rasens und sehen ihn schließlich vor uns: den
Haselnussbaum. Er sieht recht unscheinbar aus und bildet doch das Zentrum
dieser vielen langen Sommertage, deren kunterbunte Sinneseindrücke mich jetzt
zu überwältigen drohen. Streng pfeife ich meine vorgepreschten Gedanken zurück,
damit wir uns sortieren können, und nach mehrmaligem Rufen kommen sie auch brav
angedackelt. Konzentration!
Steffi und ich waren ab der zweiten
Klasse unzertrennlich und haben jede freie Minute miteinander verbracht. Ich
sehe sie deutlich vor mir, wie sie mir gegenüber in unserem Haselnussbaum
sitzt, mit den selbst genähten bunten Latzhosen, die dicken braunen Haare zu
einem Mozartzopf geflochten und ihr Lieblingsbuch in der Hand, aus dem sie mir
mit ihrer etwas knarzigen Stimme vorliest. All das versuche ich einzufangen:
Den leichten Spätsommerwind, der mich in der Nase kitzelt; den rauen Stamm, an
dem ich mich mit der einen Hand festhalte, während ich mit der anderen nach
einer weiteren Haselnuss lange, um sie zwischen den Zähnen zu
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