Liebe am Don
Geist dir eines Tages im Sarg keine Ohrfeige gibt. Ich mag dich wie einen Sohn, Sascha.«
»Ich habe dich auch gern, Väterchen«, sagte Bodmar mit trockener Kehle.
»Ich hatte einmal einen Sohn. Die Deutschen haben ihn erschossen, hier in dieser Stadt. Ich habe ihn nie gefunden, bei allen Tausenden Toten nicht, die wir gesammelt haben. Vielleicht steht heute ein Haus über seinen Knochen, der Bahnhof, das Parteihaus oder ein Tempel der Siegesallee … Wenn ich über die Stadt sehe, bin ich glücklich … sie ist ein Denkmal über meinem Fjodor …«
»Und die Deutschen? Was hat man mit den Deutschen gemacht? Wo hat man sie begraben?« Bodmar kaute an dem Brot wie an einer Gummischeibe. Jetzt bin ich dir wieder nah, Vater, dachte er. Ein Russe erinnert mich an dich. Verzeih mir … ich hatte dich vergessen …
»Wir haben mit Baggern riesige Gräber geschaufelt und sie hineingeworfen«, sagte Borja. »Mein Gott, so einen Berg Leichen vergißt man nicht. Als das Begraben zu langsam ging und die ganze Gegend stank, haben wir sie verbrannt und die Asche als Dünger übers Land gestreut. Aber gezählt wurden sie alle. Stalin hat es im November 1943 bekanntgegeben. Es waren 146.300 deutsche Soldaten. Nur in dieser Stadt, Söhnchen. Wir wurden nicht mehr Herr über die Toten.«
»Verbrannt –«, sagte Bodmar leise. »Und die Asche verstreut …«
»Es war das beste. Weißt du, wieviel Asche 150.000 Menschen ergeben? Man kann die Felder einer Sowchose damit düngen. Das hat noch einen Sinn, Sascha.«
Bodmar nickte stumm, erhob sich, griff nach seinem Spaten und ging zurück zu dem Grab, an dem er gearbeitet hatte.
Eines von diesen Aschenhäufchen bist du, Vater, dachte er. Du bist aufgegangen in der russischen Erde. Mir wird es nicht anders ergehen, und ich bin nicht traurig darüber. Ich danke dir, Vater, daß du mich durch deinen Tod nach Rußland gelockt hast.
Er stieß den Spaten in die fette Erde und grub weiter. Weit hinten, im nördlichen Teil, besichtigte Tumow das Grab des Dichters Rebikin.
In der Leichenwäscherei des Krankenhauses Nr. 1 war Hochbetrieb.
Ein Omnibus war verunglückt. Er war gegen eine Mauer gerast, weil die Bremsen versagten. Neunzehn Tote rollten in den Kühlraum von Keller II, die meisten schmutzig und blutverschmiert. Glawira schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Wie sollen wir das schaffen?« rief sie und rannte zwischen den Segeltuchbahren hin und her. »Morgen stehen die Angehörigen oben und wollen ihre sauberen Toten sehen. Njuscha, wir werden die Nacht durcharbeiten müssen. Aber vorher verhandle ich mit der Verwaltung. Wir verlangen einen Rubel pro Stunde mehr.«
Sie telefonierte eine halbe Stunde lang im Haus herum, erfuhr dabei, daß außer den neunzehn Unglückstoten noch zwölf Patienten auf den Stationen gestorben waren, was also zusammen einunddreißig Leichen machte. Das zu bewältigen, schien selbst Glawira unmöglich.
»Wir tun unser Bestes«, sagte sie am Telefon. »Aber rasieren können wir die Männer nicht mehr. Wir haben nur vier Hände, Genossin … das kann man nicht übersehen.«
Aber der Tod rechnet nicht … er arbeitet ohne Rücksicht. Am Abend, als Njuschas Arbeitszeit eigentlich vorüber war, lagen noch immer neun Tote ungewaschen im Kühlraum, während im Transportraum sich die Särge stapelten und die Träger unheilig fluchten. Zu allem Übel erschien auch noch der Staatsanwalt, der die Unglückstoten besichtigte, als ob von ihnen eine Aussage zu erwarten wäre. Ein Polizeikommissar nahm ein Protokoll auf, daß die meisten Toten verstümmelt worden seien.
Njuscha arbeitete mechanisch, wie eine gut geölte Maschine. Ekel und Entsetzen waren ausgeschaltet, die Gedanken liefen leer. Ein bestimmter Rhythmus war in ihren Handlungen, so wie ein Automat seine Produkte ausspeit.
Rollbahre an die Wanne … Leiche in die Höhlung … Wasser laufen lassen … den Körper absprühen … mit der Bürste säubern … zurück auf die Bahre … abdecken … die Wanne schrubben … wegrollen zum Transportkeller … Übergabe an die Sargträger … Ausfüllen des Übergabezettels … Unterschrift … zurück in die Wäscherei … Der neue Tote …
»Müde?« fragte Glawira. Sie machte Pause, saß in der Ecke des gekachelten Raumes und trank Tee.
»Es geht, Glascha.«
Gegen neun Uhr abends – Bodmar wartete schon über eine Stunde an der Wolga und rauchte nervös eine Papyrossa nach der anderen – rollte Glawira einen neuen Toten in den Waschraum. Sie
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