Liebe auf dem Pulverfaß
paar Autos begegneten ihm und blendeten den einsamen Läufer, vier Lastkamele trotteten an ihm vorbei, ein paar Esel mit ihren vermummten Reitern, eine Polizeipatrouille, die ihn aber nicht beachtete, denn nachts durch die Straßen zu rennen, ist ja nicht verboten. Dann sah er zum erstenmal ein Schild mit englischen Worten.
»Mokattam-Kairo. Besuchen Sie das Kasino ›Monte Cairo‹. Die Terrasse mit dem schönsten Blick der Welt.«
Kehat blieb schwer atmend stehen. Er preßte die Hände auf sein wild schlagendes Herz und holte ein paarmal tief Luft. Der Lauf, den Berg hinauf, hatte ihn ausgepumpt. Straßen, überall Straßen. Auf die Hügel führend, irgendwo als Sackgasse endend oder auslaufend in die Wüste … Wege in die Unendlichkeit, über die sich die Zivilisation langsam vorschob. Mit Wasser, dem Ursprung allen Lebens, mit Baggern, Betonmischern und Preßlufthämmern …
Wo ist Amina? Wo?
Unschlüssig stand er an einer Kreuzung, von der sechs Straßen abgingen, eine Art Stern wie die Place de l'Etoile in Paris. Die Hauptchaussee stieg weiter bergan und würde in eine Wüstenstraße einmünden, er sah die Terrassen des ›Monte Cairo‹, jetzt nur noch von einigen hohen Laternen beleuchtet, sonst lag über den Mokattam-Bergen eine paradiesische Ruhe und der Duft von unzähligen Blüten aus den gepflegten, mit Wasser verwöhnten, eingemauerten Gärten.
Noch nie hatte sich Kehat hilfloser gefühlt als jetzt. In Köln, als er Aminas Flucht vorbereitete, kannte er genau seine Umgebung und war dadurch seinen Gegnern überlegen. In der Schweiz hatten sie im Verborgenen gelebt, ohne die geringste Sorge, daß man sie dort entdecken konnte … aber hier in Kairo überfiel ihn diese Trostlosigkeit eines Ausgesetzten, der eine ganze Welt zum Feind hat.
Er blickte in alle sechs Straßen hinein und wußte, daß es mit Sicherheit die falsche sein würde, für die er sich jetzt entschloß. So blieb er wieder stehen, wickelte sich in seine fleckige Dschellabah und wartete auf einen Menschen, den er fragen konnte. Er hatte sich sogar entschlossen, englisch zu sprechen … es gab genug Touristen, die sich arabische Kleidung kauften und als Pseudo-Orientalen herumwandelten, belächelt von den Arabern, wie man in Europa einen kostümierten Karnevalsnarren belacht. Gerade in Kairo, der Drehscheibe des Orients, fiel diese Maskerade nicht auf.
Aber was sollte man fragen? Wo ist die Villa der Fedajin? Das war doch Wahnsinn! Oder: Haben Sie ein junges, hübsches Mädchen gesehen, allein, mit Augen wie zwei schwarze Seen, das hier in den Bergen herumläuft? Man würde ihn ebenso für verrückt halten.
Kehat rückte sein Kopftuch tiefer in die Stirn, daß es fast bis auf den Brauen hing. Aus einem Weg kam ein lahmender, schwankender Esel mit einer jammervollen Gestalt auf dem Rücken. Das Tier stolperte die leichte Steigung hinunter und machte den Eindruck, gleich zusammenzubrechen. Der in weiße Tücher verhüllte Mensch schien sogar zu schlafen.
»He!« rief Kehat laut. Das war eine Anrede, die man überall auf der Welt verstand.
Der Eselreiter zuckte hoch, das lahme Tier blieb stehen und senkte den Kopf. Gleich fällt es um, dachte Kehat. Wie kann man auf so einem Tier noch reiten? Er kam über den Sternplatz hinüber und hielt die Dschellabah hoch über sein Gesicht.
»Ich habe eine Frage. Können Sie Englisch?«
Der Reiter glitt von seinem Esel, und jetzt sah Kehat, daß er eine kleine, zierliche Gestalt hatte. »Du Dummkopf!« sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte. »Was läufst du als Taubstummer nachts herum? Willst du alles verderben …«
»Amina!« schrie er und breitete die Arme weit aus. »Amina, ich bin umgekommen vor Angst um dich …«
Er lief auf sie zu, riß sie an sich und drückte sie so fest an seine Brust, als wolle er sie in sich hineinpressen. Amina hatte Mühe zu atmen, trommelte mit den kleinen Fäusten gegen seinen Rücken und keuchte.
»Laß mich los, du Esel! Laß mich los! Wo wolltest du denn hin? Laß mich los –«
»Ich wäre von Straße zu Straße gerannt. Amina, mein Gott, das darfst du nie wieder tun! Einfach wegschleichen. Nicht sagen, wohin du gehst.«
Sie lehnte sich an ihn, befreite ihren Kopf aus den Tüchern und ließ es geschehen, daß er sie küßte, ihr die Haare aus dem Gesicht strich und sich benahm wie ein Verrückter, dem man ein Spielzeug geschenkt hat.
»Ich habe sie gefunden –«, sagte sie endlich. »Sie konnten nur dort sein.«
»Wen hast du gefunden?«
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