Liebe auf den letzten Blick
»unserem Alter«. Bei dieser Behauptung fühlt sich jede Frau gut.
»Und, was sagt Ivana?«
»Es dauert jedes Jahr zwei Stunden länger, sooo umwerfend auszusehen!«
Nach dem Besuch beim Coiffeur begebe ich mich auf Shoppingtour. Mal abgesehen von mehr Farbe, die ich laut Irma benötige, hat Amelie fürs Jubiläum
Aufbrezeln
angeordnet. Damit wir nicht wie olle graue Altersheimmäuse aussähen, meinte sie. Sie wusste genau, dass sie mich mit diesem hinterhältigen Argument eiskalt erwischt, denn leider hängen in meinem Schrank ausschließlich die konservativen Klamotten, die man als Chefbuchhalterin so trägt. Doch nun besitze ich ein todschickes schwarzes Kleid mit U-Boot-Ausschnitt, das die Schultern freilässt. Laut Coco Chanel bleiben die Schultern nämlich bis zuletzt faltenfrei. Außerdem ist Schwarz unabhängig von Modetrends, was wiederum meine immer noch auf Kosten-Nutzen ausgerichtete Buchhalterseele besänftigt, denn das Kleid und der dazu passende Body waren unanständig teuer.
Mindestens zehn Minuten habe ich mich im Designerladen vor dem Spiegel gedreht und überlegt, ob sich so eine Ausgabe für mich überhaupt amortisiert. In meinem Alter sind Einladungen zu festlichen Events so selten wie ein Rosengarten in der Wüste. Wie oft würde ich es also noch tragen können? Dieblutjunge, wunderschöne Verkäuferin sah ihre Chance auf Umsatz schwinden und suchte eilig nach Argumenten, um meine Kauflust zu animieren. »Mit einer schönen Kette oder einem farbigen Schal können Sie es jederzeit aufpeppen und nicht nur zu Beerdigungen tragen«, säuselte sie verbindlich lächelnd. Im ersten Moment wollte ich sie anpflaumen, wie sie auf die absurde Idee käme, dass ältere Frauen elegante Kleider nur für Beerdigungen benötigen. Doch dann schluckte ich meinen Ärger runter und entgegnete spitz: »Eigentlich wollte ich es zu meiner eigenen Beisetzung tragen.« Das schöne Kind war so geschockt, dass sie beinahe vergaß zu atmen.
Beim Gedanken an ihren fassungslosen Gesichtsausdruck muss ich immer noch lachen und schließe fröhlich summend die Haustür auf.
Im Treppenhaus begegnet mir Sophie Stein. Die junge Mutter lebt mit ihren beiden kleinen Kindern und deren Vater im Dachgeschoss.
»Hallo Frau Stein. Wie geht’s?«, erkundige ich mich.
»Danke«, grummelt sie mit unbewegter Miene. »Und Sie? Schon etwas eingelebt?«
Sophie trägt ihr aschblondes Haar nachlässig im Nacken zusammengebunden und wirkt so erschöpft, als habe sie nächtelang nicht geschlafen. Selbst im Schummerlicht des Hausflurs erkenne ich die dunklen Schatten unter ihren Augen.
»Wir feiern heute Abend eine kleine Housewarming-Party«, sage ich. »Kommen Sie doch auf ein Glas Prosecco vorbei. Sie sind herzlich eingeladen.«
»Ja mei, die Frau Opitz und die Frau Stein …«
Die Stimme von Cengiz lässt uns zusammenzucken. Im grauen Kittel, mit Filzhut auf dem Kopf und Eimer und Putzmopp in den Händen, taucht unser Hausmeister, der trotz seiner türkischen Wurzeln bayrischer als jeder Münchner Bierbrauerwirkt, aus der Kellertür auf. »Servus, mitnander!« Sein breites Grinsen lässt unter seinem üppigen Schnurrbart kräftige, weiße Zähne sehen.
Wir grüßen freundlich zurück. Er stellt sein Putzzeug ab und schnappt sich den mit Werbebroschüren gefüllten Papierkorb unter den Briefkästen. Kopfnickend verschwindet er durch den Hinterausgang zu den Mülltonnen.
Sophie bedankt sich für die Einladung, zögert aber, sie anzunehmen. »Kommt drauf an, wann die Kinder einschlafen.«
»Wie geht es den Kleinen denn? Sie können die beiden auch gern mitbringen.«
»Das ist nett, Frau Opitz, danke. Vielleicht schaue ich auf einen Sprung vorbei.« Sie wendet sich zum Gehen. »Entschuldigen Sie, ich muss los, den Wochenendeinkauf erledigen. Torsten kann nicht so lange auf die Kids aufzupassen.«
»Wenn Sie Hilfe benötigen, jederzeit gern«, rufe ich ihr noch nach. Ich finde sie sehr sympathisch, schade, dass sie immer einen etwas gehetzten Eindruck macht, und nie länger als ein paar Sekunden Zeit hat. Ob sie Streit mit ihrem Lebensgefährten hat? Sie scheint nicht besonders glücklich zu sein. Den jungen Vater habe ich noch nicht kennengelernt. Doch Sophie hat mir erzählt, dass er Archäologie studiere, sie selbst Kunst unterrichte und deshalb, wie viele berufstätige Frauen, ständig unter Zeitdruck stehe. Kein Wunder, unter der Doppelbelastung würde wohl jeder leiden. Die sechs Monate alte Nora und der dreijährige Luis
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