Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
drückte es Clarissa in die Hand. »Danke«, murmelte die. Sie trocknete sich schnell den Oberkörper ab und kletterte über den Wannenrand, um sich Beine und Füße trocken zu rubbeln. Dann folgte sie Joan zum Bett, wo die Zofe frische Sachen für sie ausgebreitet hatte.
Eine halbe Stunde später kam Clarissa fix und fertig angezogen ins Parterre, ihre Haare noch eine Spur feucht – und die Brille weiter auf der Nase. Ihr war verflixt mulmig zumute, und sie hätte sich das Ding am liebsten heruntergerissen und in ihrer Rocktasche versenkt.
Kneifen gilt nicht, redete sie sich zu. Alles wird gut.
Lydia saß allein am Tisch, als die junge Frau das Frühstückszimmer betrat, und die zusammengeräumtenTeller ließen darauf schließen, dass ihr Vater und Adrian schon gefrühstückt hatten, Lady Mowbray möglicherweise auch. Ein Blick in das Gesicht ihrer Stiefmutter, und Clarissa wusste spontan warum. Lydia machte ein Gesicht, als hätte es ihr mal wieder die Petersilie verhagelt. Die junge Frau seufzte stumm in sich hinein. Das verhieß nichts Gutes. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht, aber Lydia hatte sie natürlich gesehen, und es wäre unhöflich gewesen, Hals über Kopf zu flüchten.
»Wie ich sehe, hast du eine neue Brille.« Lydia grinste ihr hämisch nach, als Clarissa mit ihrem Teller zum Sideboard lief, um sich von dem reichhaltigen Angebot zu bedienen. »Die ist wohl heute Morgen angekommen, was? Hast du dir damit deinen Mann schon angesehen? Kapierst du inzwischen, was du dir mit dem Kerl eingebrockt hast? Jetzt fühlst du dich bestimmt sterbenselend, nicht wahr?«
Während sie ihren Teller füllte, ließ Clarissa die Fragen schweigend über sich ergehen. Dann setzte sie sich seelenruhig an den Tisch, breitete eine Serviette über ihren Schoß, nahm Messer und Gabel in die Hand. Schließlich sagte sie schlicht und betont ruhig: »Falls es dich interessiert, Lydia. Ich hatte die Brille schon einen Tag vor meiner Hochzeit.«
Bleiernes Schweigen legte sich über den Raum, und Clarissa nutzte die Gelegenheit, sich ein, zwei Bissen in den Mund zu schieben.
Als sie die dritte Gabel an die Lippen brachte, platzte Lydia entgeistert heraus: »Du hast ihn geheiratet, obwohl du wusstest, wie abstoßend er mit seiner Narbe aussieht? Mein Gott, bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kann man sich von so einem hässlichen Vogel bloß anfassen lassen?«
Clarissa ließ die Gabel auf den Teller zurücksinken. »Ehrlich gesagt hab ich Adrian nicht wegen seines Aussehens geheiratet, Lydia. Ich wusste schon bei unserem ersten Ball, wie er aussieht. Jedes Mal, wenn er sich beim Tanzen zu mir herunterbeugte, hab ich einen Blick auf sein Gesicht erhascht.« Clarissa erwiderte den Blick ihrer Stiefmutter mit eiserner Härte. »Ich fand ihn schon damals anziehend, und das finde ich noch immer. Bedauerlich, dass du da anders empfindest. Aber du hast ihn ja schließlich nicht geheiratet.«
Sie machte sich nichts daraus, als Lydia sie fassungslos anfunkelte, und aß hungrig weiter. Ihre Stiefmutter beäugte sie derweil, als wäre Clarissa ein Buch mit sieben Siegeln.
»Anscheinend bist du wirklich glücklich mit ihm«, meinte sie mit allen Anzeichen der Verblüffung und fügte dann erschüttert hinzu: »Ist mir schleierhaft, wie du das schaffst.«
Clarissa hob den Kopf und fixierte milde betroffen ihr Gegenüber. Lydia begriff mal wieder gar nichts. »Adrian ist ein guter Mensch, er trägt das Herz auf dem rechten Fleck, und er macht mich glücklich«, erklärte sie weich. »Außerdem trägt er mich auf Händen. Er bringt mich zum Lachen. Er hat mir vorgelesen, als ich keine Brille hatte. Er hat mich mit Häppchen gefüttert und mir das Weinglas gehalten, als ich auf Bällen weder essen noch trinken durfte. Wenn er mich küsst, hab ich Schmetterlinge im Bauch, und wenn er mich verführt, bin ich vor Leidenschaft wie von Sinnen.«
Lydia wurde weiß wie eine Wand, als wäre sie einer Ohnmacht nahe. Dann glitten in schneller Folge andere Gefühlsregungen über ihre Züge: Verärgerung, Abneigung, Neid, Verwirrung. Schließlich schlich sich ein niedergeschlagener, resignierter Ausdruck in ihren Blick.
Clarissa kümmerte das nicht sonderlich, sie nahm ihre Gabel und ließ sich ihr Frühstück schmecken.
Eine kurze Weile später hatte Lydia sich wieder gefasst und ging erneut zum Angriff über. »Hat er dich schon mit dieser Brille gesehen? Ich wette mal, nein. Immerhin hab ich dich auch noch nie damit
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