Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
verdient. Die Enttäuschung hat mich verbittert, und das habe ich euch alle spüren lassen. Inzwischen kann dein Vater mich nicht mehr ausstehen.« Sie senkte ihren tränenfeuchten Blick in Clarissas und fuhr fort: »Er hasst mich so sehr, dass er mir sogar einen Mord zutraut. Er glaubt, ich habe versucht, dich umzubringen.« Lydia schüttelte den Kopf, ihre Miene tief verletzt. »Wie kann er so etwas von mir denken? Ich komme damit klar, dass er mich nicht liebt, aber müsste er mich nach all den Jahren nicht etwas besser kennen?«
»Ich bin sicher, er glaubt das nicht wirklich«, beschwichtigte Clarissa ihre Stiefmutter. Sie hatte Lydia noch nie so verletzlich erlebt. Und nie gemerkt, wie unglücklich sie war. Oder, besser gesagt, sie hatte zwar gespürt, dass Lydia unglücklich sein musste, weil sie anderen das Leben vermieste, aber Clarissa hatte nie begriffen, warum das so war. Offen gestanden hatte sie sich auch nie groß angestrengt, es herauszufinden. Sie hatte sich auch nie wirklich Gedanken gemacht, warum sie keine Halbgeschwister hatte. Oder welche Träume Lydia hatte und ob sie sich erfüllt hatten. Wie sie erzählte, hatte ihre Stiefmutter eine glückliche, behütete Kindheit gehabt, aber als erwachsene Frau war ihr das ganz große Glück versagt geblieben.
»Er hat mir knallhart an den Kopf geworfen, dass er mich als Täterin verdächtigt, und mich gewarnt, dass er mich vor Gericht bringen wird, wenn dir etwas zustoßen sollte. Er denkt bestimmt, dass ich hinter diesen Unfällen stecke«, seufzte Lydia. »Und das habe ich mir selbst eingebrockt, weil ich dir die Brille weggenommen habe.«
»Ich bin sicher, er glaubt das nicht ernsthaft«, wiederholte Clarissa. »Die Männer haben schlicht und einfach kombiniert, dass es jemand sein muss, der jetzt hier ist und der zeitgleich mit mir in London war, und das dürften nicht so viele sein.«
»Dann hab ich ganz schlechte Karten«, seufzte Lydia und lehnte sich deprimiert zurück. »Verständlich, dass dein Vater nichts als Verachtung für mich übrig hat.«
Eine kurze Gesprächspause entstand, dann meinte Clarissa gedehnt: »Lydia, wenn meine Mutter recht hatte, und wir sind selber verantwortlich für unser Glück … Also, ich will damit sagen, wenn du nicht dauernd so unausstehlich wärst, vielleicht wäre Vater dann auch zugänglicher.«
Lydia schaute sie einen kurzen Moment lang verständnislos an, dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. »Apropos unglücklich und andere schikanieren, wieso bist du eigentlich so freundlich zu mir, obwohl ich so hässlich zu dir war?«
Clarissa krauste die Stirn. »Weil ich mittlerweile begreife, dass ich früher sehr egoistisch war, was dich betrifft. Ich hab dich mehr oder weniger als selbstverständlich hingenommen. Und keinen Gedanken daran verschwendet, dass du vielleicht eigene Kinder haben möchtest oder dass Vater nicht immer so perfekt ist, wie ich ihn sehe. Ich wusste, dass du mit der Situation nicht glücklich warst, und redete mir ein, das sei dein Problem und nicht meins. Damit war das Thema für mich erledigt.« Clarissa räusperte sich. Dann sagte sie aufrichtig: »Bitte verzeih mir, Lydia. Es tut mir so leid, dass du vom Leben enttäuscht worden bist, und ich finde es im Nachhinein schlimm, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben hab.«
»Du warst noch ein halbes Kind«, sagte Lydia erstickt. »Ich war eine erwachsene Frau. Und auch wenn ich enttäuscht war, hätte ich das Beste aus meinem Leben machen müssen. Da ich anscheinend keine eigenen Kinder bekommen kann, hätte ich dankbar um die Chance sein müssen, dir eine gute Mutter zu sein. Ich hab zufällig dein Gespräch mit Lady Mowbray mitbekommen, an dem Morgen nach der schrecklichen Geschichte mit der vergifteten Torte. Ich war auf dem Weg nach unten in den Salon. Als ich an deiner Zimmertür vorbeikam, hörte ich, wie sie sagte, dass sie sich immer eine Tochter gewünscht hat, aber nach Adrian keine Kinder mehr bekommen konnte, und dass sie dir gern eine mütterliche Freundin sein möchte.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich hatte die Chance, und ich habe sie mit Füßen getreten.«
Ihr Blick tief zerknirscht, fuhr sie fort: »Ich bin untröstlich, Clarissa. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte noch einmal von vorn anfangen. Dann würde ich vieles anders machen. Glaub mir, ich wäre gern so etwas wie eine mütterliche Freundin für dich.«
»Kein Problem. Was hältst du von einem Neuanfang unter Freundinnen«, bot
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