Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
Griff der Teetasse, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und Clarissa befürchtete, dass das zarte Porzellan zerbrechen könnte. »Ich bin seit etlichen Jahren mit deinem Vater verheiratet, und trotzdem sind wir kinderlos geblieben.«
Clarissas Augen sahen trotz der Brille mit einem Mal verschwommen, weil sie vor lauter Mitgefühl feucht wurden. Sie blinzelte die Tränen fort und räusperte sich. »Du hattest doch mich. Ich hätte für dich wie eine eigene Tochter sein können.«
»Ich wollte dich nicht«, sagte Lydia schroff, ihr Blick hart, ehe sie beschämt wegsah. »Verzeih mir, Clarissa, wenn ich das so offen sage, aber du warst ja schon fast erwachsen, als ich nach Crambray kam. Eine junge Frau mit einer eigenen Persönlichkeit und eigenem Charakter … und ein genaues Ebenbild deiner Mutter, der Frau, die eine Beziehung führte, wie ich sie mir sehnlich wünschte, die mir aber versagt blieb.« Ihre Miene verdunkelte sich. »Ich wollte das, was Margaret hatte: einen Mann, der mich liebt und anbetet, und ein Baby. Eine eigene Tochter, die mir ähnlich sieht und die ich verwöhnen kann.«
Clarissa nickte langsam. »Ich bin sicher, meine Mutter hätte auch gern das gehabt, was du hattest.«
Lydia blinzelte verständnislos. »Was habe ich denn, was sie nicht hatte?«
»Deine Gesundheit«, versetzte Clarissa. »Mutter war immer zart und zerbrechlich. Sie war sehr anfällig für Krankheiten. Ein kleiner Windstoß reichte, und sie war tagelang bettlägerig. Unsere ganze Liebe konnte sie nicht gesund machen, sie ist dennoch gestorben.«
Ein Hauch von Beschämung verschattete Lydias Blick, und sie sah weg. Ihre Lippen wurden schmal.
»Ich erzähle dir das nicht, um dir damit ein schlechtes Gewissen zu machen«, sagte Clarissa schnell. »Ich will dir damit nur verdeutlichen, dass niemand alles haben kann. Du hast nicht alles bekommen, was du wolltest. Und Mutter auch nicht.«
Lydia wandte sich ihr langsam wieder zu, anstelle der Beschämung war unverhüllte Neugier in ihren Blick getreten. »War sie glücklich?«
Clarissa seufzte und dachte weit zurück, an das Lachen und die Fröhlichkeit ihrer Mutter, obwohl sie so oft krank gewesen war. Margaret Crambray hatte sich nie anmerken lassen, wie schlecht es ihr ging oder wie verzweifelt sie war. Sie war ein lebensbejahender Mensch gewesen und hatte ihre Leiden geduldig lächelnd ertragen. Deshalb hatten sie sie so geliebt.
»Ich glaube, ein Teil von ihr war sehr unglücklich«, sagte Clarissa schließlich. »Ich weiß genau, ich hätte es auch frustrierend gefunden. Sie hat sich aber nie viel anmerken lassen. Mutter erzählte mir einmal, dass Glück vor allem eine Frage der Einstellung sei. Wenn man dauernd Trübsal bläst, meinte sie, wird man früher oder später depressiv; wenn man glücklich sein will und das Leben genießen möchte, dann muss man halt die schönen Seiten würdigen.
Clarissa, sagte meine Mutter oft, es ist nicht alles nur gut und auch nicht alles bloß schlecht, sondern das Leben hat viele Facetten – auch wenn uns das manchmal nicht so vorkommt, wenn das Schlechte in unserem Leben zu überwiegen scheint und wir im Leben der anderen nur das Gute sehen und neidisch werden. Wir müssen auch bei uns selbst stets das Positive sehen und nicht das Negative, sonst erstarren wir in Hoffnungslosigkeit, und das ist kein Leben.«
»Was deine Mutter gesagt hat, klingt sehr weise«, entgegnete Lydia weich. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt, als sie noch lebte. Vielleicht, mit ein paar klugen Ratschlägen, hätte ich mein Leben nicht in ein auswegloses Chaos verwandelt.«
»Ausweglos?«, forschte Clarissa.
Lydia entfuhr ein harsches, bellendes Lachen. »Ach, ich weiß es doch selber nicht«, sagte sie milde sarkastisch. »Sag du es mir. Ich werde alt und fett – eine richtige Matrone eben – und bin mit einem Mann verheiratet, der mich hasst, und meine Stieftochter hasst mich ebenfalls.«
»Ich hasse dich nicht.«
»Dein Vater schon.«
»Er …«
»Bitte.« Lydia hielt beschwörend eine Hand hoch. »Versuch jetzt nicht, mir weismachen zu wollen, dass er mich nicht hasst. Anfangs dachte ich, ich bin ihm bloß irgendwie gleichgültig. Er liebte deine Mutter, und sie starb viel zu jung. In seinen Augen wird sie immer jung und schön bleiben, ich konnte niemals mit ihr konkurrieren, weder damals noch heute. Und mit der Zeit begann er mich zu verachten. Ich denke, ich habe es wohl nicht besser
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