Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
gesehen. Er kann es sicher nicht leiden, wenn du eine Brille trägst, stimmt’s?«
Clarissa, die sich fast an ihrem letzten Bissen verschluckte, legte Messer und Gabel neben den Teller. Sie betupfte sich mit der Serviette die Lippen, faltete die Hände im Schoß und richtete ihren Blick abermals fest auf Lydia. Dann ließ sie die Frage los, die sie schon seit Jahren bedrückte: »Wieso wünschst du mir immer bloß das Schlechteste? Weswegen hasst du mich so abgrundtief?«
Lydia fuhr auf dem Stuhl zusammen, als hätte sie eine schallende Ohrfeige bekommen. »Das ist ja lachhaft. Du bist meine Stieftochter. Ich hasse dich doch nicht.«
»Trotzdem bist du immer so hart zu mir.«
»Das Leben ist nun mal hart, Clarissa«, sagte die Frau grob. »All diese Träume vom Kinderkriegen und vom Lebensglück? Ein liebender Ehemann und ein trautes Heim? Vergiss es. Die Schicksalsgöttin ist ein hinterhältiges Biest, und selbst wenn sie dir schenkt, was du dir wünschst, stehst du irgendwann mit leeren Händen da. Es ist besser, wenn man jung lernt, wie hart das Leben ist, statt verzärtelt und behütet aufzuwachsen, und dann stehst du plötzlich vor einem Scherbenhaufen.«
Clarissa, die ihre Stiefmutter schweigend fixierte, hatte das Gefühl, dass sie ganz allmählich zu begreifen begann, wie Lydia gestrickt war. »Bist du verzärtelt und behütet aufgewachsen?«
»Oh ja.« Lydia lachte bitter auf. »Ich wurde maßlos verwöhnt. Ich konnte alles haben, was ich wollte. Wenn ich mir etwas wünschte, bekam ich es.«
»Bis du meinen Vater geheiratet hast«, mutmaßte Clarissa.
Lydia senkte den Blick auf ihren Teller. Nach einer kurzen Pause sagte sie leise: »Gleich als ich ihn das erste Mal sah, wollte ich diesen Mann für mich haben. Ich bekam mit, wie er zu deiner Mutter war, und …«
»Du kanntest ihn schon, als Mutter noch lebte?«, fragte Clarissa verblüfft.
Lydia nickte, ihr gesenkter Blick verriet Beschämung. »Sie liebten einander über alles. Ich beneidete deine Mutter zutiefst. Als sie starb, dachte ich: ›Fantastisch! Das ist meine Chance.‹ Und dann habe ich mich an ihn herangemacht.«
Sie lachte kurz und bitter auf und tastete nach ihrer Teetasse.
»Oh, natürlich nicht sofort. Ich habe ihn bedauert und getröstet, mitfühlende Worte dafür gefunden, wie schwer es für dich sein muss, ohne Mutter aufzuwachsen. Und wie schwer es für ihn sei. Und dass du einen Mutterersatz benötigst, denn schließlich warst du noch ein halbes Kind. Du brauchtest eine mütterliche Freundin, besonders damals nach dem Skandal. Ich habe ihm damit in den Ohren gelegen, was für eine große Last es für ihn bedeutet, wenn er dich allein großziehen muss und einen riesigen Haushalt zu führen hat.«
»Und dann hat er dich geheiratet«, schloss Clarissa. Sie erinnerte sich, dass Lydia bei ihren ersten Besuchen in Crambray sehr nett zu ihr gewesen war. Sie hatten viel miteinander gelacht, doch dann war sie immer zurückhaltender geworden und reservierter, regelrecht unleidlich. Nicht nur gegenüber Clarissa, sondern bei allen.
»Ja, er hat mich geheiratet«, antwortete Lydia geknickt. »Wie ich schon sagte, ich habe immer bekommen, was ich wollte.«
»Aber dieses eine Mal nicht, hm?«, sagte Clarissa, als ihr die Wahrheit schwante. »Weil du nicht wirklich meinen Vater wolltest, sondern die Beziehung, die er mit meiner Mutter hatte.«
»Ja«, räumte Lydia mit einem gequälten Lächeln ein. »Du warst schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Wäre ich nur halb so klug gewesen, hätte ich mir mein Leben nicht zerstört.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Oh, er war nett und aufmerksam auf seine distanzierte Art, aber ich empfand nichts, wenn er mich küsste. Das mit den Schmetterlingen im Bauch und diese unbändige Leidenschaft, wie du sie eben erwähnt hast, ist mir völlig fremd. Er hat mich nur geheiratet, weil er eine Mutter für dich brauchte und eine Haushälterin, und das war’s dann. Du warst die Tochter seiner geliebten Margaret, und im Umgang mit dir war er liebevoller, aufmerksamer und fürsorglicher als mit mir, seiner Ehefrau. Das habe ich ihm sehr übel genommen.
Aber damit hätte ich noch leben können«, fuhr sie gefasst fort. »Die meisten Ehen sind mehr oder weniger reine Zweckgemeinschaften. Ich hätte mich mit dem bisschen Zuneigung, die er für mich übrig hatte, zufriedengegeben, wenn ich wenigstens eigene Kinder hätte bekommen können. Aber ich bin nie schwanger geworden.« Sie umkrampfte den
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