Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
Nachricht war, dass sie so gut wie überhaupt nichts sah. Dann fühlte sie Adrians Hand.
»Fass meine Hand. Ich helf dir runter.«
»Na gut, wenn es sein muss.« Clarissa atmete tief durch. Sie umklammerte zaghaft seine Hand und wollte vorsichtig ein Bein über das Fensterbrett bringen, doch ihr Nachthemd störte dabei ganz erheblich.
Sie zögerte verlegen, besann sich dann aber, dass er schon alles gesehen hatte, was unter dem Fummel steckte. Sie raffte es kurz entschlossen hoch und schwang ihren Schenkel auf den Sims. Dann drehte sie den Kopf nach draußen zu Adrian, den sie als großen dunklen Schatten wahrnahm. Ein Glück, dass sich sein Hemd blütenweiß von dem dunklen Nachthimmel und den Bäumen abhob.
»Klettere ganz raus und spring zu mir auf den Ast. Ich fang dich auf.« Seine Stimme klang ruhig und zuversichtlich, und Clarissa zwang sich, ihre Ängste zu verdrängen und sich ganz auf Adrians Anweisungen zu konzentrieren.
Sie schwang ihr anderes Bein über die Brüstung, atmete abermals tief durch, verstärkte den Druck auf seine Hand und sprang. Für den Augenblick eines Herzschlags schwebte sie im freien Fall durch die Luft; sie spürte, wie Adrian an ihr zerrte, und stöhnte auf, als sie unsanft an den Ast prallte, auf dem er saß. Sie schlitterte ungebremst weiter und glaubte sekundenlang, dass sie in die Tiefe stürzen würde, doch er packte sie und riss sie an beiden Händen hoch. Er hielt ihre Handgelenke fest umklammert, und sie baumelte zwischen Baum und Borke, ihre Füße strampelten haltsuchend in der Luft.
»Ich lass dich jetzt runter auf den Boden.«
»Besser nicht«, stammelte Clarissa entsetzt. »Kannst du mich nicht einfach zu dir hochziehen?«
»Ja, aber nach unten geht einfacher, Clarissa. Wir sind nicht so hoch. Außerdem, wenn ich dich hochziehe, müssten wir beide runterklettern. So kann ich dich vorsichtig runterlassen und dann selber springen.«
Clarissa biss sich auf die Lippen und spähte in die gähnend schwarz verwischte Tiefe. »Und du bist sicher, dass es nicht tief ist?«
»Ich schwör’s dir. Dein Schlafzimmer ist im ersten Stock, Clarissa. Der Ast hier hängt ziemlich tief, und wenn ich dich ein wenig absenke, müssten deine Füße bereits den Boden berühren.«
»Oh.« Sie seufzte. »Na gut, aber lass mich bitte nicht fallen.«
Statt sie hinunterzulassen, riss Adrian sie spontan in seine Arme und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Ich lass dich schon nicht fallen, dafür bist du mir viel zu kostbar.«
Bevor sie reagieren konnte, umschloss er ihre Hände mit seinen und neigte sich vor. Dann begann er, sie behutsam nach unten zu senken. Clarissa, die ihre Finger um seine krampfte, schloss die Augen, überzeugt, dass es viel zu hoch war und er sie bestimmt fallen lassen würde.
»Du bist kurz über dem Boden, Liebes. Spring einfach.«
»Muss ich wirklich?«, fragte sie unbehaglich und hörte, wie er angespannt lachte.
»Leider ja.« Au weia, das klang endgültig. Folglich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ließ seine Hände los. Adrian löste ebenfalls seinen Griff, worauf sie fiel und unsanft auf dem Boden aufprallte. Sie war höchstens ein, zwei Meter tief gestürzt, wenn überhaupt.
Ein Stoßzeufzer der Erleichterung entwich ihrer Kehle.
»Sie ist da!«
Die Erleichterung hielt leider nicht lange an. Beim Klang der Stimme wirbelte Clarissa erschrocken herum. Ihre Augen verengten sich zu kurzsichtigen Schlitzen. Mist, das da hinten an der Hausecke war bestimmt einer ihrer Diener. Sie biss sich nervös auf die Innenseite ihrer Wange und spähte dabei zu Adrian, der über ihr im Geäst herumturnte.
»Öhm … Adrian?«, flüsterte sie in das grüne Dickicht. Hoffentlich hörte er sie überhaupt, denn es knackte verdächtig in den Zweigen, während er leise fluchend versuchte, sich von einem Ast zu befreien, an dem er wohl mit dem Hemd hängen geblieben war.
»Eine Minute noch, Liebes. Ich bin gleich bei dir.« Er schnaufte frustriert.
Clarissa spähte wieder zu dem Diener und sah, dass er in ihre Richtung stürmte … gefolgt von sämtlichen Hausbewohnern. Und dahinter liefen zig Nachbarn aus den umliegenden Stadthäusern. Alle in heller Aufregung, dass Clarissa etwas Schlimmes passiert sein könnte.
Clarissa starrte auf die verschwommenen Silhouetten, die langsam näher kamen, und registrierte beiläufig, dass ein erleichtertes Aufseufzen durch die Reihen ging. Dann landete Adrian vor ihren Füßen und blendete mit seiner Statur die
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