Liebe auf den zweiten Kuss
bevor sie an der Tür angelangt war. Dann wandte sie sich nur für den Bruchteil einer Sekunde um und erstarrte.
Die Wohnung hatte sich in ein Inferno verwandelt, das Esszimmer ihrer Großmutter glühte orange. In der Vitrine krachte das Porzellan, die Susie-Cooper-Figur kippte fast wie in Zeitlupe vornüber, die Clarice-Figur folgte und sah sich keck über die Schulter, während sie auf die Vitrinentür zuschlitterte und das Glasregal schließlich unter ihr zusammenbrach. Die Teekanne mit dem Turmfalken-Dekor fiel auf die Stroud-Terrine, dann neigten sich die ›Secrets‹-Teller vornüber und fielen auf das ganz edle Porzellan, das beim Zusammenprall zersplitterte, und die rund gestutzten Bäumchen und Häuser und Halbmonde zerbarsten vor ihren Augen...
Plötzlich war Riley da und rief in höchster Aufregung: »Nun komm schon«, und sie erwiderte: »Mein Porzellan« , als er sie in die Frühlingsnacht hinauszog auf die andere Straßenseite, wo Suze weinte und Doris fluchte. Die Feuerwehr war da, und jetzt erst wurde ihr klar, dass sie die Sirenen bereits die ganze Zeit über gehört hatte. Sie blickte über Rileys Schulter zu dem Appartement zurück, zu dem Scheiterhaufen, der einmal ihr Wohnzimmer gewesen war, und dachte an Clarice und Susie, wie sie schmolzen und zerbarsten, all diese Erinnerungen, all diese Schönheit, ermordet und für immer dahin.
»Das war Brandstiftung«, wandte sie sich an Riley, während sie barfuß im kalten Gras stand. »Jemand...«
Suze drängte Riley zur Seite und nahm sie in die Arme. »Gott sei Dank, du hast Marlene, ich dachte schon, du wärst tot, ich dachte, ihr wärt beide tot.«
»Ich glaube, du hast mich gerettet«, sagte Nell mit dem Rücken zum Haus, während ein Auto hinter ihnen schlitternd zum Stehen kam. »Ich bin aufgewacht, als ich dich habe schreien hören...«
Sie hörte eine Tür zuschlagen, dann sagte Gabe: »Was in aller Welt geht hier vor?« Sie drehte sich um und ging auf ihn zu und ließ sich mit Marlene in ihren Armen von ihm umarmen, und erst jetzt fiel ihr auf, dass Marlene unbedingt aus der Chenilledecke heraus wollte. Sie lehnte sich ein wenig zurück und zog die Decke von Marlenes Kopf herunter.
Marlene bellte dreimal hintereinander ein scharfes, hohes, schon fast hysterisches Bellen, wollte aber nicht abgesetzt werden.
»Das ist alles, was ich vor den Flammen habe retten können«, wandte sich Nell an Gabe. »Marlene und die Decke. Alles andere ist weg. Mein ganzes Porzellan. Die Esszimmereinrichtung meiner Großmutter. Der Rest ist mir eigentlich gleichgültig, aber Gabe, mein ganzes Porzellan. Ich habe das Porzellan meiner Großmutter verloren.«
Noch während sie es aussprach, wurde ihr klar, wie frivol das alles klang – sie war in Sicherheit und Marlene war in Sicherheit und Suze ebenfalls, sie verlor nichts wirklich Wichtiges – doch sie wusste, wenn sie die Augen wieder schloss, würde sie Clarice sehen, die flirtend über ihre Porzellanschulter blickte, wie sie in diese perfekte Bilderwelt von Stroud fiel. Alles war zerschmettert.
Zwei Stunden später saß Nell vollkommen erschöpft an Gabes Küchentisch. Sie trug eines von Lus Nachthemden und stand immer noch unter Schock, während Marlene auf ihrem Schoß döste.
»Du brauchst Schlaf«, meinte Gabe.
»Diesen Rauchgeruch werde ich wohl niemals mehr aus dem blauen Pyjama herausbekommen.«
»Nein«, bestätigte Gabe. »Ich würde es noch nicht einmal versuchen.«
»Früher hat er dir gefallen.«
»Mir gefiel, was darin steckte. Wie du dich erinnern wirst, habe ich ihn dir jedes Mal so schnell wie nur möglich ausgezogen.«
»Richtig.« Nell lächelte bemüht.
Eine Stunde später lag sie im Bett und starrte an die Decke, lauschte dem beruhigenden Schnarchen von Marlene und hörte erneut das Krachen der Flammen und das Zersplittern des Porzellans. Susies Halbmondschalen und Falkenteekannen, Clarices Stroud und ihre Secrets. Das Porzellan hatte sie stets an ihre Mutter und Großmutter erinnert. Damals, als er sie noch liebte, hatte Tim ihr das Teeservice »Secrets« Stück für Stück gekauft. Jase hatte ihr das Zuckerdöschen geschenkt, als er zehn Jahre alt war, das Gesicht strahlend vor Aufregung. Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Der Mistkerl, der ihr Appartement angezündet hatte, hatte ihre Vergangenheit ausgelöscht, bis nichts mehr zurückgeblieben war als Asche. Es war fast mehr, als sie ertragen konnte, und sie rollte sich auf die Seite, vergrub ihr
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