Liebe auf südlichen Straßen
rauhen Fingerspitzen über die Wange, versetzte ihm einen kleinen freundschaftlichen Schlag zum Abschied und sagte noch: »Geh und bring das deiner Elisabeth bei, falls sie es noch nicht wissen sollte.«
Die Sonne stand senkrecht am Himmel, als er den steilen Pfad hinunterlief. Die Luft brodelte wie flüssiges Glas zwischen den Mauern und fuhr beim Atmen glühend in die Lungen. In den Gärten lagen die Arbeiter im Schatten der Bäume und verzehrten ihr Mittagsmahl. Die Straße war wie leergefegt, nur ein paar Schulkinder, die Bücher am Riemen über dem Rücken, trollten sich heimwärts zum Pranzo. An der letzten Wegbiegung, dicht vor der Hauptstraße, prallte Lorenz fast auf seinen Sohn, der das Bücherpaket am Riemen wie einen Schleuderball durch die Luft wirbelte. Der Junge bremste bei seinem Anblick den Schwung ab und fing den Packen mit der Schulter auf.
»Eh, Lorenzo, come va?« grüßte Lorenz ein wenig befangen und hob zwei Finger an die Stirn.
»Grazie, Signore, wie geht’s selber?« grüßte der Junge zurück und blieb mitten im Wege stehen, »ein heißer Tag, wie?«
»Das kann man wohl sagen! Ich bin gerade am Schmelzen«, stöhnte Lorenz und schleuderte den Schweiß mit den Fingerspitzen von der Stirn, »wie geht’s in der Schule?«
»Wir haben Glück gehabt, sonst hätten wir noch eine Stunde länger in dem Schwitzkasten sitzen müssen; aber den Lehrer stach eine Biene in die Lippe, als er ein Stück Zuckermelone aß. Vielleicht stirbt er daran. Wenn die Biene ihm in die Zunge gestochen hätte, würde er sicherlich sterben.«
»Ist er so schlimm?«
»Einer ist wie der andere. Aber Signor Cavatti hat eine besonders gemeine Art, einen an den Schläfenhaaren hochzuziehen und zu fragen, ob man von hier aus Rom sehen kann.«
»Was du nicht sagst! Unserer machte es genauso, bloß er fragte, was es in Berlin Neues gäbe. — Also, Lorenzo, mach’s gut!« Er fuhr seinem Sohn über den dichten Schopf, in dem zwei Wirbel Kamm und Bürste trotzten: »Du wirst Hunger haben, wie? Es gibt zuppa di verdura mit Hammelfleisch; ich kann es dir verraten, denn beinahe hätte ich dir deinen Teil weggegessen...«
Er hob die Hand zur Abschiedsgeste, aber Lorenzo machte keine Anstalten, ihn vorbeizulassen.
»Mamina erwartet mich erst eine Stunde später, Signore. Ich habe es nicht eilig. Und Hunger habe ich auch nicht.«
»So, so...«, murmelte Lorenz und suchte vergeblich nach neuem Gesprächsstoff, denn zu sagen, daß er es dafür um so eiliger habe, brachte er aus einer unbestimmten Regung heraus nicht fertig. Es war schließlich sein Sohn, auch wenn er sein Herz erfolglos nach väterlichen Gefühlen durchforschte oder nach jener Stimme lauschte, die man die Stimme des Blutes nennt —
»Es ist nämlich ein glücklicher Zufall, Signore, daß wir uns hier getroffen haben«, sagte Lorenzo und kratzte sich das Bein mit den Zehen. »Ich habe mich nach Ihnen erkundigt. Sie wohnen im Haus der Ingenieure, nicht wahr? Und wenn wir uns hier nicht getroffen hätten, dann wäre ich heute nachmittag wohl zu Ihnen gekommen...«
»Wie das und warum?« fragte Lorenz und hob die Brauen.
»Ich habe nämlich mit Ihnen zu reden, Signor Bonaventura«, sagte Lorenzo und begann, mit demselben Zeh, mit der er sich soeben gekratzt hatte, einen Stein aus dem harten Lehmboden zu bohren. »Wie ist es? Wollen Sie mich nicht zu einem Eis einladen? Hier stehen wir wie in einem Backofen... Und ich habe eine kleine Stunde Zeit.«
»Aber gewiß...«, stotterte Lorenz; er brauchte tatsächlich drei Ansätze, um den ersten Laut herauszubringen. »Wo gibt es hier in der Nähe eine Gelateria?«
»Keine hundert Schritt weiter, dem Bagno publico schräg gegenüber. Man kann dort auch im Garten unter den Platanen sitzen.«
»Also los, gehen wir!« sagte Lorenz und griff nach Lorenzos Arm. Aber Lorenzo mußte erst seine Bücher in einem Wasserabzugsloch der Mauer deponieren. Dann trabte er neben ihm her.
»Wenn Sie natürlich in einer vornehmen Gelateria mit Glastischen und einer Nickeltheke sitzen wollen, dann müßten wir noch Gargnano gehen. Aber es ist ein längerer Weg, und das Eis ist deshalb nicht besser.«
Lorenz verzichtete mit einer Handbewegungen auf allen Komfort. Amüsiert, aber auch ein wenig beunruhigt, fragte er sich, was wohl in aller Welt Lorenzo veranlassen mochte, die Begegnung einen glücklichen Zufall zu nennen, und weshalb er, wenn sie sich nicht getroffen hätten, ins Haus der Ingenieure gekommen wäre. Die hundert
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