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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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blieben einen Moment unschlüssig an der Tür stehen. Es war Mittag, aber der Speisesaal war, da er keine Fenster hatte, erleuchtet. Das elektrische Licht wirkte merkwürdig verloren und krank um diese Stunde – als wäre ein Stück Zeit vom Abend vorher übriggeblieben und vergessen worden.
      »Da ist ja Marill!« sagte Kern.
      »Wo?« – »Drüben, neben der Lampe! So was! Da haben wir ja gleich jemand, den wir kennen!«
      Marill sah sie jetzt. Er rückte einen Augenblick ungläubig an seiner Brille. Dann stand er auf, kam auf sie zu und schüttelte ihnen die Hände. »Die Kinder in Paris! Ist das möglich! Wie habt ihr denn das alte Verdun entdeckt?«
      »Doktor Klassmann hat es uns gesagt.«
      »Klassmann, ach so! Na, ihr seid richtig hier. Das Verdun ist prima. Habt ihr Pension?«
    »Ja, aber nur für einen Tag.«
      »Gut. Ändert das morgen. Zahlt nur das Zimmer, und kauf euch das andere selbst. Viel billiger! Ab und zu eßt ihr dann mal hier, damit die Wirtin bei guter Laune bleibt. War richtig, daß ihr aus Wien verschwunden seid. Es wird jetzt sehr brenzlig da unten!«
      »Wie ist es hier?«
      »Hier? Mein Junge … Österreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz, das war der Bewegungskrieg der Emigranten, aber Paris ist der Stellungskrieg. Die vorderste Linie der Schützengräben. Jede Emigrationswelle ist bis hierher gerollt. Sehen Sie den Mann mit dem buschigen schwarzen Haar drüben? Ein Italiener. Den mit dem Bart daneben? Ein Russe. Zwei Plätze weiter? Ein Spanier. Noch zwei weiter, ein Pole und zwei Armenier. Daneben vier Deutsche. Paris ist die letzte Hoffnung und das letzte Schicksal von allen.« Er blickte auf die Uhr. »Kommt, Kinder! Es ist vor zwei. Wenn ihr was zu essen haben wollt, wird es jetzt Zeit. Die Franzosen sind ein genaues Volk mit den Mahlzeiten. Nach zwei gibt’s nichts mehr.«
      Sie setzten sich an Marills Tisch. »Wenn ihr hier eßt, empfehle ich euch diese dicke Kellnerin«, sagte er. »Sie heißt Yvonne und stammt aus dem Elsaß. Ich weiß nicht, wie sie es macht – aber in ihren Schüsseln ist immer mehr als in allen andern.«
      Yvonne stellte die Suppe auf den Tisch und grinste.
      »Habt ihr Geld, Kinder?« fragte Marill.
      »Für ungefähr zwei Wochen«, erwiderte Kern.
      Marill nickte. »Das ist gut. Habt ihr schon überlegt, was ihr machen wollt?«
      »Nein. Wir sind erst gestern angekommen. Wovon leben alle die Leute hier?«
      »Gut gefragt, Kern. Fangen wir mit mir an. Ich lebe von Artikeln, die ich für ein paar Emigrantenblätter schreibe. Die Leute kaufen sie, weil ich mal Reichstagsabgeordneter war. Die Russen haben alle Nansenpässe und Arbeitserlaubnis. Sie waren die erste Emigrationswelle. Vor zwanzig Jahren. Sie sind Kellner, Köche, Masseure, Portiers, Schuhmacher, Chauffeure und so etwas. Die Italiener sind auch zum größten Teil untergebracht; sie waren die zweite Welle. Wir Deutschen haben zum Teil noch gültige Pässe; die wenigsten haben eine Arbeitserlaubnis. Manche besitzen noch etwas Geld, das sie sehr vorsichtig einteilen. Die meisten aber haben keins mehr. Sie arbeiten schwarz für das Essen und ein paar Francs. Sie verkaufen, was sie noch besitzen. Dort drüben der Rechtsanwalt macht Übersetzungen und Schreibmaschinenarbeit. Neben ihm der junge Mann bringt Deutsche mit Geld zu Nachtklubs und bekommt dafür Prozente. Die Schauspielerin ihm gegenüber lebt von Handlesekunst und Astrologie. Manche geben Sprachunterricht. Manche sind Gymnastiklehrer geworden. Ein paar gehen morgens früh zu den Markthallen, um Körbe zu schleppen. Eine Anzahl lebt nur von den Unterstützungen der Flüchtlingshilfe. Manche handeln; manche betteln – und manche kommen irgendwann nicht mehr wieder. Wart ihr schon bei der Flüchtlingshilfe?«
      »Ich war da«, sagte Kern. »Heute vormittag.«
      »Nichts bekommen?«
      »Nein.«
      »Macht nichts. Sie müssen wieder hingehen. Ruth muß zur jüdischen gehen; Sie zur gemischten; ich gehöre zur arischen.« Marill lachte. »Das Elend hat seine Bürokratie, wie Sie sehen. Haben Sie sich eintragen lassen?«
      »Nein, noch nicht.«
      »Machen Sie das morgen. Klassmann kann euch helfen. Er ist Experte darin. Für Ruth kann er sogar versuchen, eine Aufenthaltserlaubnis zu kriegen. Sie hat doch einen Paß.«
      »Sie hat einen Paß«, sagte Kern. »Aber er ist abgelaufen, und sie mußte illegal über die Grenze.«
      »Das macht nichts. Ein Paß ist ein Paß. Gold

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