Liebe deinen nächsten
zur Polizei gegeben werden. Sollte revidiert werden, sind Sie immer gerade am selben Tage angekommen, und die Zettel sollten am nächsten Morgen zur Polizei geschickt werden, verstehen Sie? Die Hauptsache ist, daß man Sie nicht gerade erwischt. Dafür gibt es einen prima unterirdischen Gang. Sie werden das schon sehen. Das Verdun ist kein Hotel – es ist etwas, was Gott schon vor fünfzig Jahren in weiser Voraussicht für die Emigranten geschaffen hat. Haben Sie Ihre Zeitung schon gelesen?«
»Ja.«
»Dann geben Sie sie mir. Damit sind wir dann quitt.«
»Gut. Danke vielmals.«
Kern ging zu Ruth, die in einem Café an der nächsten Ecke auf ihn gewartet hatte. Sie hatte einen Stadtplan und eine französische Grammatik vor sich. »Hier«, sagte sie, »das habe ich mir in einer Buchhandlung inzwischen gekauf. Billig. Antiquarisch. Ich glaube, es sind die beiden Waffen, die wir brauchen, um Paris zu erobern.«
»Exakt. Wir wollen sie sofort benutzen. Laß uns nachsehen, wo die Rue de Turenne ist.«
Das Hotel Verdun war ein altes, baufälliges Haus, von dem der Verputz in großen Stücken herabgefallen war. Es hatte eine kleine Eingangstür, hinter der sich eine Loge befand, in der die Wirtin, eine hagere, schwarzgekleidete Frau, saß.
Kern brachte in stockendem Französisch sein Anliegen vor. Die Wirtin musterte beide mit glänzenden, schwarzen Vogelaugen von oben bis unten. »Mit oder ohne Pension?« fragte sie dann kurz.
»Was kostet es mit Pension?«
»Zwanzig Francs pro Person. Drei Mahlzeiten. Frühstück auf dem Zimmer, die andern im Speisesaal.«
»Ich glaube, wir nehmen für den ersten Tag mit Pension«, sagte Kern auf deutsch zu Ruth. »Wir können das ja immer noch ändern. Die Hauptsache, daß wir zunächst mal unterkommen.«
Ruth nickte.
»Also mit Pension«, sagte Kern. »Ist ein Unterschied im Preis, wenn wir ein Zimmer nehmen?«
Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Doppelzimmer sind nicht frei. Sie haben hunderteinundvierzig und zweiundvierzig.« Sie warf zwei Schlüssel auf den Tisch. »Zahlung jeden Tag. Im voraus.«
»Gut.« Kern schrieb die Anmeldeformulare ohne Datum aus. Dann zahlte er und nahm die Schlüssel. Sie hingen an riesigen Holzklötzen, auf die die Nummern eingebrannt waren.
Die beiden Zimmer lagen nebeneinander. Es waren schmale einbettige Kammern nach dem Hof hinaus. Das Zimmer im Hotel Habana war ein Palast dagegen gewesen.
Kern sah sich um. »Das sind richtige Emigrantenbuden«, sagte er. »Trostlos, aber anheimelnd. Sie versprechen nicht mehr, als sie halten wollen. Was meinst du?«
»Ich finde sie großartig«, erwiderte Ruth. »Jeder hat ein Zimmer und ein Bett. Denk nur, wie es in Prag war! Zu dritt und viert in einem Zimmer.«
»Richtig, das hatte ich ganz vergessen. Ich dachte eben an die Wohnung der Familie Neumann in Zürich.«
Ruth lachte. »Und ich an die Scheune, in der wir naßgeregnet wurden.«
»Du denkst besser als ich. Aber du weißt, weshalb ich so denke?«
»Ja«, sagte Ruth, »aber es ist falsch, und es beleidigt mich. Wir werden etwas Seidenpapier kaufen und daraus herrliche Lampenschirme machen. Wir werden hier Französisch lernen an diesem Tisch und draußen über dem Dach ein Stück Himmel sehen. Wir werden schlafen in diesen Betten, die die besten der Welt sein sollen, und aufwachen, und wenn wir am Fenster stehen, dann wird dieser schmutzige Hof voller Romantik sein, denn es ist ein Hof in Paris.«
»Gut!« sagte Kern. »Dann wollen wir jetzt in den Speisesaal gehen. Dort gibt es französisches Essen. Es soll ebenfalls das beste der Welt sein!«
Der Speisesaal des Hotels Verdun befand sich im Kellergeschoß. Er wurde von den Gästen deshalb als die Katakombe bezeichnet. Man hatte einen langen, verwickelten Weg, um hinzukommen – über Treppen, durch Gänge und sonderbare, seit Jahrzehnten eingemottete Zimmer, in denen die Luf stillstand wie Wasser in einem moorigen Teich. Er war ziemlich groß; denn er gehörte gleichzeitig zum Hotel International, das nebenan lag und der Schwester der Wirtin gehörte.
Dieser gemeinsame Speisesaal war die Attraktion der beiden baufälligen Hotels. Es war für die Emigranten das, was die Katakomben im alten Rom für die Christen waren. Wurde im International kontrolliert, so verschwand alles durch den Speisesaal zum Verdun hinüber; und umgekehrt ebenso. Der gemeinsame Keller war die Rettung.
Kern und Ruth
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