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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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behutsam bemüht, ihn nicht anzustoßen.
      Er wandte sich wieder dem Beamten zu. »Irgend jemand muß mir doch sagen, was ich tun soll!« sagte er leise immer wieder. Er flüsterte nur noch, mit erschrockenen Augen, schon geduckt unter den Armen, die wie Wogen über seinen Kopf hinweg sich zum Schalter bewegten. Seine Hände mit den dick hervorstehenden, krausen Adern klammerten sich noch an das Schalterbrett. Dann schwieg er. Und plötzlich, als erlahme seine Kraf, ließ er die Arme fallen und verließ den Schalter. Die großen, nutzlosen Hände pendelten an seinem Körper herunter wie an Tauen, zusammenhanglos, als wären sie nur zufällig aufgehängt an den Schultern, und der vorgeneigte Kopf schien nichts mehr zu sehen. Aber während er noch völlig verloren dastand, sah Kern das nächste Gesicht vor dem Schalter in Entsetzen erstarren. Dann folgten hastige Gebärden und wieder dieses furchtbare, trostlose Starren, dieses blinde Insichhineinschauen, ob es nicht irgendwo noch irgendeine Rettung gäbe.
      »Das ist das Paradies?« sagte Kern.
      »Ja«, erwiderte Klassmann. »Dies hier ist schon das Paradies. Viele werden abgelehnt; aber viele bekommen auch ihre Verlängerung.«
      Sie gingen durch einige Korridore und kamen in einen Raum, der nicht mehr aussah wie eine Bahnhofshalle, sondern wie ein Wartesaal vierter Klasse. Ein Völkergemisch erfüllte ihn. Die Bänke reichten bei weitem nicht aus. Die Leute standen oder saßen auf dem Boden. Kern sah eine schwere, dunkle Frau wie eine breite, brütende Glucke in einer Ecke auf dem Boden sitzen. Das schwarze Haar war gescheitelt und geflochten. Um sie herum spielten mehrere Kinder. Das kleinste hatte sie an der entblößten Brust. Sie saß unbefangen mit der sonderbaren Hoheit eines gesunden Tieres und dem Recht jeder Mutter in all dem Lärm und hatte nur Augen für ihre Brut, die um ihre Knie und ihren Rücken spielte wie um ein Denkmal.
      Neben ihr stand eine Gruppe Juden mit schütteren grauen Bärten, in schwarzen Kafanen, mit Löckchen. Sie standen und warteten, mit einem Ausdruck so unerschütterlicher Ergebung, als hätten sie schon Hunderte von Jahren gewartet und wüßten, daß sie noch weitere hundert Jahre warten müßten. Auf einer Bank an der Wand saß eine schwangere Frau. Neben ihr ein Mann, der fortwährend nervös seine Hände rieb. Daneben ein Mann mit weißen Haaren, der leise auf eine weinende Frau einsprach. Auf der andern Seite ein junger, pickliger Mensch, der Zigaretten rauchte und hastig wie ein Dieb eine schöne, elegante Frau anstarrte, die ihm gegenübersaß und ihre Handschuhe anund auszog. Ein Buckliger, der in ein Notizbuch schrieb. Eine Anzahl Rumänen, die zischten wie Dampfessel. Ein Mann, der Fotografien betrachtete, sie einsteckte, gleich wieder hervorholte, wieder betrachtete und wieder einsteckte. Eine dicke Frau, die in einer italienischen Zeitung las. Ein junges Mädchen, das ohne jeden Anteil dasaß, völlig versunken in seine Traurigkeit.
      »Das hier sind alles Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis beantragt haben«, sagte Klassmann. »Oder die eine beantragen wollen.«
      »Mit was für Papieren ist denn das möglich?«
      »Die meisten haben noch gültige oder abgelaufene, nicht erneuerte Pässe. Oder sind auf irgendwelche Ausweise legal eingereist, mit Visum.«
      »Dann ist dies hier noch nicht die schlimmste Abteilung?«
      »Nein«, sagte Klassmann.
      Kern sah, daß außer Beamten auch Mädchen hinter den Schaltern arbeiteten. Sie waren hübsch und adrett angezogen; die meisten trugen helle Blusen und halblange Ärmelschoner darüber aus schwarzem Satin. Es erschien ihm einen Augenblick sonderbar, daß hinter den Schaltern Menschen waren, denen es wichtig war, die Ärmel ihrer Bluse vor etwas Schmutz zu schonen, während vor ihnen sich andere Menschen drängten, deren ganzes Leben im Schmutz versank.
      »In den letzten Wochen ist es besonders schlimm hier in der Präfektur«, sagte Klassmann. »Immer, wenn in Deutschland etwas geschieht, was die umliegenden Länder nervös macht, müssen die Emigranten es als erste ausbaden. Sie sind die Sündenböcke für die einen und für die andern.«
      Kern sah am Schalter einen Mann mit einem schmalen, geistvollen Gesicht. Seine Papiere schienen in Ordnung zu sein; das junge Mädchen hinter dem Schalter nahm sie nach einigen Fragen, nickte und begann zu schreiben. Aber Kern sah, wie der Mann, während er nur dastand und wartete, zu schwitzen

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