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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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begann. Der große Raum war kalt, und der Mann trug nur einen dünnen Sommeranzug; aber der Schweiß drang ihm aus allen Poren, sein Gesicht wurde glänzend naß, und helle Tropfen flossen ihm über Stirn und Wangen. Er stand unbeweglich, die Arme auf das Schalterbrett gestützt, in einer verbindlichen, nicht einmal unterwürfigen Haltung da, bereit, Antwort zu geben - und sein Wunsch ging in Erfüllung –, und trotzdem war er nichts als Todesschweiß, als würde er auf dem unsichtbaren Rost der Herzlosigkeit gebraten. Hätte er geschrien, lamentiert oder gebettelt, es wäre Kern nicht so schrecklich erschienen. Aber daß er höflich, in guter Haltung, gefaßt dastand und daß nur seine Poren seinen Willen überfluteten, das war, als ob der Mann in sich selbst ertrank. Es war die Not der Kreatur selbst, die alle Dämme des Menschseins zu durchsickern schien.
      Die Beamtin gab dem Mann seine Papiere mit einem freundlichen Wort zurück. Er dankte in einem weichen ausgezeichneten Französisch und ging rasch davon. Erst an der Ausgangstür des Saales öffnete er sein Papier, um nachzusehen, was darin stand. Es war nur ein bläulicher Stempel mit ein paar Daten, aber dem Mann schien es auf einmal, als sei es Mai und die Nachtigallen der Freiheit sängen betäubend in dem nüchternen Saal.
      »Wollen wir gehen?« fragte Kern.
      »Haben Sie genug gesehen?« - »Ja.«
      Sie gingen dem Ausgang zu. Aber sie wurden aufgehalten durch eine Schar armseliger Juden, die wie ein Schwarm zerzauster, hungriger Dohlen sie umkreiste.
      »Bittäh – helfen …« Der Älteste trat vor mit weiten, fallenden, demütigen Bewegungen. »Wir nicht sprechen französisch - hel – fen – bitte Mensch – Mensch …«
      »Mensch – Mensch …«, fielen die andern im Chor ein und flatterten mit ihren weiten Ärmeln. »Mensch – Mensch …«
      Es schien fast das einzige Wort Deutsch zu sein, das sie kannten, denn sie wiederholten es ununterbrochen und wiesen dabei mit den gelblichen, abgezehrten Händen auf sich, auf ihre Stirnen, ihre Augen, ihre Herzen, immer wieder in einem weichen, eindringlichen, fast schmeichlerischen Singsang: »Mensch – Mensch …«, und nur der Älteste fügte hinzu: » … auch – Mensch …« Er konnte ein paar Worte mehr.
      »Sprechen Sie jiddisch?« fragte Klassmann.
      »Nein«, erwiderte Kern. »Nicht ein Wort.«
      »Es sind Juden, die nur jiddisch sprechen. Sie sitzen hier Tag für Tag und können sich nicht verständigen. Sie suchen jemand, der ihnen dolmetschen hilf.«
      »Jiddisch, jiddisch!« nickte der Älteste eifrig.
      »Mensch – Mensch …«, summte der flatternde Chor mit aufgeregten, ausdrucksvollen Gesichtern.
      »Helfen – helfen…« Der Älteste zeigte zu den Schaltern: »Nicht – kann – sprechen … nur: Mensch – Mensch …«
      Klassmann machte eine bedauernde Bewegung. »Nicht jiddisch.«
      Die Dohlen umringten Kern. »Jiddisch? Jiddisch? Mensch …«
      Kern schüttelte den Kopf. Das Flattern hörte auf. Die Bewegung erstarb. Der Älteste fragte noch einmal, mit vorgeneigtem Kopf, erstarrt: »Nicht …?«
      Kern schüttelte wieder den Kopf. »Ah!« Der alte Jude hob die Hände bis zur Brust, die Fingerspitzen berührten sich, und die Hände bildeten ein kleines Dach über dem Herzen. So stand er ein wenig vorgebeugt, als lausche er auf einen Ruf aus der Ferne. Dann verneigte er sich und ließ die Hände langsam sinken.
      Kern und Klassmann verließen den Raum. Als sie den vorderen Korridor erreichten, hörten sie von den Steintreppen herab, die hier einmündeten, eine brausende Musik. Es war ein federnder Marsch mit Trompetengejubel und mächtigen Fanfarenstößen.
      »Was ist denn das?« fragte Kern.
      »Radio. Oben sind die Unterkunfsräume für die Polizei. Mittagskonzert.«
      Die Musik stürmte die Treppen herab wie ein glitzernder Bach; sie staute sich im Korridor und sprühte dann wie ein Wasserfall durch die breiten Ausgangstüren. Sie sprühte und übersprühte eine einsame, kleine Gestalt, die dunkel und ohne Farbe auf der untersten Treppenstufe hockte, wie ein regloser Klumpen Schwarz, eine kleine Erhöhung mit rastlosen, verstörten Augen. Es war der alte Mann, der sich so schwer von dem erbarmungslosen Schalter gelöst hatte. Verloren und fertig hockte er in der Ecke, die Schultern eingezogen, die Knie am Körper, als könne er nie wieder aufstehen – und über ihn hinweg sprühte und tanzte die Musik in bunten,

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