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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, daß der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen könnte, daß er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damalls sei ein Bruder von ihm gewesen.
      Aber der Beamte war viel zu müde, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin. »Hier! Sind noch mehr draußen?«
      »Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.«
      »Gut.«
      Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, daß Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als könne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.
      Erst draußen vor dem Tor des Gebäudes blieb er stehen und sah sich um. Du süßer Himmel, dachte er überwältigt, du süßer, blauer Himmel! Ich bin zurückgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nächte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Möge er demnächst eins finden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthält.
      Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fühlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschluß trat er dann auf den Polizisten zu. »Wie spät ist es, Wachtmeister?« fragte er.
      Er hatte selbst eine Uhr bei sich. Aber es war ein zu seltenes Erlebnis, einmal vor einem Polizisten keine Angst haben zu brauchen.
      »Fünf«, brummte der Polizist.
      »Danke.« Kern ging langsam die Treppe hinunter. Er wäre am liebsten gelaufen. Jetzt erst glaubte er, daß alles wirklich wahr war.

    DER GROSSE WARTERAUM des Komitees für Flüchtlingshilfe war überfüllt mit Menschen. Trotzdem wirkte er auf eine sonderbare Weise kahl. Die Leute standen und saßen im Halbdunkel herum wie Schatten. Fast niemand sprach. Jeder hatte alles, was ihn anging, schon hundertmal gesagt und besprochen. Jetzt gab es nur noch eins, zu warten. Es war die letzte Barriere vor der Verzweiflung.
      Über die Hälfe der Anwesenden waren Juden. Neben Kern saß ein bleicher Mensch mit einem Birnenschädel, der einen Geigenkasten auf den Knien hielt. Auf der andern Seite hockte ein alter Mann, über dessen gebuckelte Stirn eine Narbe lief. Er öffnete und schloß ruhelos die Hände. Daneben saßen, eng zusammengeschmiegt, ein blonder, junger Mann und ein dunkles Mädchen. Sie hielten die Hände fest ineinander verschränkt, als fürchteten sie, wenn ihre Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachließe, auch hier noch auseinandergerissen zu werden. Sie sahen sich nicht an; sie sahen irgendwohin in den Raum und in die Vergangenheit hinein, und ihre Augen waren leer von Gefühl. Hinter ihnen saß eine dicke Frau, die lautlos weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen und das Kinn auf das Kleid; sie achtete nicht darauf und machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Ihre Hände lagen schlaff in ihrem Schoß.
      In dieser schweigenden Ergebenheit und Trauer spielte unbefangen ein Kind. Es war ein Mädchen von ungefähr sechs Jahren. Lebhaf und ungeduldig, mit glänzenden Augen und schwarzen Locken, wanderte es umher.
      Vor dem Mann mit dem Birnenschädel blieb es stehen. Es blickte ihn eine Zeitlang an; dann zeigte es auf den Kasten, den er auf den Knien hielt. »Hast du eine Geige darin?« fragte es mit einer klingenden, fordernden Stimme.
      Der Mann sah das Kind einen Moment an, als verstände er es nicht. Dann nickte er.
      »Zeig sie mir«, sagte das Mädchen.
      »Warum?«
      »Ich möchte sie sehen.«
      Der Geiger zögerte einen Augenblick; dann öffnete er den Kasten und nahm das Instrument heraus. Es war in ein violettes Seidentuch gewickelt. Mit behutsamen Händen faltete er es auseinander.
      Das Kind starrte die Geige lange an. Vorsichtig hob es dann die Hand und berührte die Saiten.
      »Warum spielst du nicht?« fragte es.
      Der Geiger antwortete nicht.
      »Spiel doch etwas«, wiederholte das Mädchen.
      »Mirjam!« rief eine Frau, die einen Säugling auf dem Schoß hatte, von der andern Seite des Raumes leise und unterdrückt. »Komm her zu mir, Mirjam!«
      Das Mädchen hörte nicht auf sie. Es schaute den Geiger an. »Kannst du nicht spielen?«
      »Ich kann schon …«
      »Warum spielst du dann nicht?«
      Der Geiger sah sich

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