Liebe deinen nächsten
daß ich Sie anspreche. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich Ihnen jemals einen Rat geben könnte. Aber jetzt möchte ich es tun.«
Der Professor blieb stehen. »Gerne«, erwiderte er zerstreut. »Sehr gerne. Ich bin für jeden Rat dankbar. Wie war doch Ihr Name?«
»Kern. Ludwig Kern.«
»Ich bin für jeden Rat dankbar, Herr Kern. Ganz außerordentlich dankbar, wirklich!«
»Es ist kaum ein Rat. Nur etwas Erfahrung. Sie versuchen, Staubsauger und Grammophone zu verkaufen. Lassen Sie es. Es ist Zeitverschwendung. Hunderte von Emigranten versuchen das hier. Es ist ebenso sinnlos, wie Lebensversicherungen abschließen zu wollen.«
»Das wollte ich gerade nächstens versuchen«, unterbrach ihn der Professor lebhaf. »Jemand hat mir gesagt, es wäre leicht, und es wäre etwas damit zu verdienen.«
»Er hat Ihnen eine Provision für jeden Abschluß angeboten, nicht wahr?«
»Ja, natürlich, eine gute Provision.«
»Aber sonst nichts? Keine Spesen und kein Fixum?«
»Nein, das nicht.«
»Das kann ich Ihnen auch anbieten. Es bedeutet gar nichts. Herr Professor, haben Sie schon einen Staubsauger verkauf? Oder ein Grammophon?«
Der Professor sah hilflos auf. »Nein«, sagte er sonderbar beschämt, »aber ich hoffe, in der nächsten Zeit …«
»Geben Sie es auf«, erwiderte Kern. »Das ist mein Rat. Kaufen Sie eine Handvoll Schnürsenkel. Oder ein paar Büchsen Stiefelwichse. Oder einige Pakete Sicherheitsnadeln. Kleine Sachen, die jeder brauchen kann. Handeln Sie damit. Sie werden nicht viel daran verdienen. Aber Sie werden ab und zu etwas verkaufen. Auch damit handeln Hunderte von Emigranten. Aber man verkauf Sicherheitsnadeln leichter als Staubsauger.«
Der Professor blickte ihn nachdenklich an. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Kern lächelte verlegen. »Das glaube ich. Aber überlegen Sie es einmal. Es ist besser. Ich weiß es. Ich habe früher auch Staubsauger verkaufen wollen.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Der Professor reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich …« Seine Stimme war plötzlich sonderbar leise und fast unterwürfig, als wäre er ein Schüler, der schlecht gelernt hatte.
Kern biß sich auf die Lippen. »Ich war in jeder Ihrer Vorlesungen …«, sagte er.
»Ja, ja …« Der Professor machte eine flatternde Geste. »Ich danke Ihnen, Herr … Herr …«
»Kern. Aber es ist nicht wichtig.«
»Doch, es ist wichtig, Herr Kern. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas vergeßlich in der letzten Zeit. Und haben Sie vielen Dank. Ich glaube, ich werde es versuchen, Herr Kern.«
DAS HOTEL BRISTOL war ein baufälliger, kleiner Kasten, der von der Flüchtlingshilfe gemietet worden war. Kern bekam ein Bett in einem Zimmer angewiesen, in dem zwei andere Flüchtlinge wohnten. Er war nach dem Essen sehr müde geworden und legte sich gleich schlafen. Die beiden andern waren noch nicht da, und er hörte auch nicht, daß sie kamen.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Er hörte Schreie und sprang sofort empor. Ohne nachzudenken, griff er nach seinem Koffer und seinen Kleidern und rannte aus der Tür, den Korridor entlang.
Draußen war alles still. Am Treppenabsatz blieb er stehen. Er stellte den Koffer ab und lauschte – dann strich er sich mit den Fäusten über das Gesicht. Wo war er? Was war los? Wo war die Polizei?
Langsam kam ihm die Erinnerung. Er blickte an sich herunter und lächelte erleichtert und entspannt. Er war in Prag im Hotel Bristol, und er hatte für vierzehn Tage eine Aufenthaltserlaubnis. Es gab keinen Grund, so zu erschrecken. Sicher hatte er irgend etwas geträumt. Er kehrte um. Das darf nicht wieder passieren, dachte er. Es fehlt noch, daß ich nervös werde. Dann ist alles aus.
Er öffnete die Tür und tastete im Dunkeln nach seinem Bett. Es war das rechte an der Wand. Er stellte seinen Koffer leise ab und hängte seine Kleider unten über den Bettpfosten. Dann tastete er nach der Decke. Plötzlich spürte er, gerade als er sich hinlegen wollte, unter seiner Hand etwas Weiches, warm Atmendes und schoß bolzengerade hoch.
»Wer ist da?« fragte eine Mädchenstimme schlafrunken.
Kern hielt den Atem an. Er hatte die Zimmer verwechselt.
»Ist jemand da?« fragte die Stimme noch einmal.
Kern blieb stocksteif stehen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Nach einiger Zeit hörte er einen Seufzer und dann, wie jemand sich umdrehte. Er
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