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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wußte, daß es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.
      Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streife es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

    Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am
    Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht
         melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streifen keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. »Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?« fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.
      »Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.«
      »Aha! Kann sein, daß er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?«
      »Es geht«, sagte der Mann. »Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.«
      Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafarten bekommen, das wußte er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, daß man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.
      »Sie sind dran«, sagte der Mann neben ihm.
      Kern sah ihn an. »Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.«
      »Gut.«
      Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloß abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. »Wie war es?« fragte er.
      »Zehn Tage!« Der Mann strahlte. »So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muß gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.«
      Kern gab sich einen Ruck. »Dann werde ich es auch versuchen.«
      Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern. »Emigrant?«
      »Ja.«
      »Aus Deutschland gekommen?«
      »Ja. Heute.«
      »Irgendwelche Papiere?«
      »Nein.«
      Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, daß in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glätten.
      Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ärgerlich zu machen. Er preßte nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.
      Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. »Zehn Tage«, sagte er. »Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie ’raus.«
      Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann faßte er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte«, sagte er.
      »Das geht nicht. Warum?«
      »Ich warte darauf, daß mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muß ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.«
      Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zurück. Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wußte, daß er lügen mußte. Der Beamte dagegen wußte, daß er diese Lügen glauben mußte – denn es gab keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, daß beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.
      Der Beamte ließ den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen. »Gut«, sagte er. »Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlängerung.«
      Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, daß

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