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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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er den Geiger kommen und unschlüssig umherstehen. Er winkte ihm. Der Geiger sah ihn erstaunt an und kam langsam herüber. Kern wurde verwirrt. Er hatte, als er ihn wiedersah, geglaubt, den Geiger schon lange zu kennen; jetzt fiel ihm ein, daß sie noch nicht einmal miteinander gesprochen hatten.
      »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich habe Sie vorhin spielen hören, und ich dachte, Sie wüßten vielleicht nicht Bescheid hier.«
    »Das weiß ich auch nicht. Sie?«
      »Ja. Ich war schon zweimal hier. Sind Sie noch nicht lange draußen?«
      »Vierzehn Tage. Ich bin heute hier angekommen.«
      Kern sah, daß der Professor und jemand neben ihm aufstanden. »Da werden zwei Plätze frei«, sagte er rasch. »Kommen Sie!«
      Sie drängten sich zwischen den Tischen durch. Der Professor kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Er blickte Kern zweifelnd an und blieb stehen. »Kenne ich Sie nicht?«
      »Ich war einer Ihrer Schüler«, sagte Kern.
      »Ach so, ja …« Der Professor nickte. »Sagen Sie, wissen Sie vielleicht Leute, die Staubsauger brauchen könnten? Mit zehn Prozent Rabatt und Ratenzahlung? Oder Grammophone mit eingebautem Radio?«
      Kern war nur einen Augenblick überrascht. Der Professor war eine Autorität in der Krebsforschung gewesen. »Nein, leider nicht«, sagte er mitleidig. Er wußte, was es hieß, Staubsauger und Grammophone verkaufen zu wollen.
      »Ich hätte es mir denken können.« Der Professor sah ihn abwesend an. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er dann, als spräche er zu jemand ganz anderem, und ging weiter.
      Es gab Graupensuppe mit Rindfleisch. Kern löffelte seinen Teller rasch leer. Als er aufschaute, saß der Geiger da, die Hände auf den Tisch gelegt, den Teller unberührt vor sich.
      »Essen Sie nicht?« fragte Kern erstaunt.
      »Ich kann nicht.«
      »Sind Sie krank?« Der Birnenschädel des Geigers sah sehr gelb und farblos aus unter dem kalkigen Licht der schirmlosen Deckenlampen.
      »Nein.«
      »Sie sollten essen«, sagte Kern.
      Der Geiger antwortete nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Dann schob er seinen Teller beiseite. »So kann man nicht leben!« stieß er schließlich hervor.
      Kern sah ihn an. »Haben Sie keinen Paß?« fragte er.
      »Doch. Aber …« Der Geiger zerdrückte nervös eine Zigarette. »So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Füßen!«
      »Mein Gott!« sagte Kern. »Sie haben einen Paß, und Sie haben Ihre Geige …«
      Der Geiger blickte auf. »Das hat doch nichts damit zu tun«, erwiderte er gereizt. »Begreifen Sie das nicht?«
      »Doch.«
      Kern war maßlos enttäuscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, müßte etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.
      »Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?« fragte er.
      »Nein.«
      »Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.«
      Der Geiger schob sie ihm hin. Kern aß sie langsam auf. Jeder Löffel voll war Kraf, dem Elend zu widerstehen, und er wollte nichts davon verlieren. Dann stand er auf. »Ich danke Ihnen für die Suppe. Ich hätte lieber gehabt, Sie hätten sie selbst gegessen.«
      Der Geiger sah ihn an. Sein Gesicht war von Falten zerrissen. »Das verstehen Sie noch nicht«, sagte er ablehnend.
      »Das ist leichter zu verstehen, als Sie glauben«, erwiderte Kern. »Sie sind unglücklich, weiter nichts.«
      »Weiter nichts?«
      »Nein. Man meint anfangs, es sei etwas Besonderes. Aber Sie werden es schon merken, wenn Sie länger draußen sind. Unglück ist das Alltäglichste, was es gibt.«
      Er ging hinaus. Zu seiner Verwunderung sah er draußen, auf der andern Seite der Straße, den Professor hin- und herwandern. Er hatte die charakteristische Haltung, die Hände auf dem Rücken, den Körper etwas vorgebeugt, die er annahm, wenn er vor dem Katheder auf- und abschritt, um irgendeine neue verwickelte Entdeckung auf dem Gebiet der Krebsforschung zu erläutern. Nur, daß er jetzt vielleicht an Staubsauger und Grammophone dachte.
      Kern zögerte eine Sekunde. Er hätte den Professor nie angesprochen. Doch jetzt, nachdem er den Geiger gesehen hatte, ging er zu ihm hinüber.
      »Herr Professor«, sagte er, »entschuldigen Sie,

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