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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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verlegen um. Seine große, ausgearbeitete Hand umklammerte den Geigenhals. Ein paar Leute in der Nähe wurden aufmerksam und sahen ihn an. Er wußte nicht, wohin er blicken sollte.
      »Ich kann doch hier nicht spielen«, sagte er schließlich.
      »Warum denn nicht?« fragte das Mädchen. »Spiel doch! Es ist langweilig hier.«
      »Mirjam!« rief die Mutter.
      »Das Kind hat recht«, sagte der alte Mann mit der Narbe auf der Stirn, der neben dem Geiger saß. »Spielen Sie doch. Vielleicht lenkt es uns alle etwas ab. Und es wird ja wohl erlaubt sein.«
      Der Geiger zögerte noch einen Augenblick. Dann nahm er den Bogen aus dem Kasten, spannte ihn und setzte die Geige an seine Schulter. Klar schwebte der erste Ton durch den Raum.
      Es war Kern, als ob ihn etwas anrühre. Als ob eine Hand etwas in ihm wegschiebe. Er wollte sich wehren, aber er konnte es nicht. Seine Haut war dagegen. Sie fröstelte plötzlich und zog sich zusammen. Dann dehnte sie sich aus und war nichts mehr als Wärme.
      Die Tür zum Büro öffnete sich. Der Kopf des Sekretärs erschien. Er kam herein und ließ die Tür hinter sich offenstehen. Sie war hell erleuchtet. Im Büro brannte schon Licht. Die kleine verwachsene Gestalt des Sekretärs hob sich dunkel von ihr ab. Es sah aus, als wollte er etwa sagen – doch dann legte er den Kopf schräg und lauschte. Langsam und lautlos, als drücke eine unsichtbare Hand gegen sie, schwang hinter ihm die Tür wieder zu.
      Nur noch die Geige war da. Sie erfüllte die schwere, tote Luf
    des Raumes, und es schien, als verändere sich alles – als schmelze sie die stumme Einsamkeit der vielen, kleinen Existenzen, die im Schatten der Wände kauerten, und sammele sie zu einer großen gemeinsamen Sehnsucht und Klage.
      Kern legte die Arme um seine Knie. Er senkte den Kopf und ließ die Flut über sich hinwegströmen. Er hatte das Gefühl, daß sie ihn wegschwemmte, irgendwohin – zu sich selbst und zu etwas sehr Fremdem. Das kleine, schwarzhaarige Mädchen hockte auf dem Boden neben dem Geiger. Es saß still und reglos und blickte ihn an.
      Die Geige schwieg. Kern konnte etwas Klavier spielen, und er verstand so viel von Musik, um zu wissen, daß der Mann wunderbar gespielt hatte.
      »Schumann?« fragte der Alte neben dem Geiger.
      Der nickte.
      »Spiel weiter«, sagte das Mädchen. »Spiel etwas, daß man lachen kann. Hier ist es traurig.«
      »Mirjam!« rief die Mutter leise.
      »Gut«, sagte der Geiger.
      Er setzte den Bogen wieder an.
      Kern blickte sich um. Er sah gebeugte Nacken und zurückgelegte, weiß schimmernde Gesichter, er sah Trauer, Verzweiflung und die sanfe Verklärung, die die Melodie der Geige für einige Augenblicke darüber breitete – er sah es, und er dachte an viele ähnliche Räume, die er schon gesehen hatte, angefüllt mit Ausgestoßenen, deren einziges Verschulden es war, geboren worden zu sein und zu leben. Das gab es, und diese Musik gab es zu gleicher Zeit. Es schien unbegreiflich. Es war ein unendlicher Trost und ein furchtbarer Hohn zugleich. Kern sah, daß der Kopf des Geigers auf der Geige lag wie auf der Schulter einer Geliebten. Ich will nicht untergehen, dachte er, indes die Dämmerung immer tiefer wurde in dem großen Raum, ich will nicht untergehen, das Leben ist wild und süß, ich kenne es noch nicht, es ist eine Melodie, ein Ruf, ein Schrei über fernen Wäldern, über unbekannten Horizonten, in unbekannten Nächten, ich will nicht untergehen!
      Erst nach einiger Zeit merkte er, daß es still geworden war. »Was war das?« fragte das Mädchen.
      »Das waren die deutschen Tänze von Franz Schubert«, sagte der Geiger heiser.
      Der alte Mann neben ihm lachte auf. »Deutsche Tänze!« Er strich sich über die Narbe auf seiner Stirn. »Deutsche Tänze«, wiederholte er.
      Der Sekretär schaltete das Licht von der Tür her an. »Der nächste …«, sagte er.

    KERN BEKAM EINE Anweisung für einen Schlafplatz im Hotel Bristol und zehn Eßkarten für die Mensa am Wenzelsplatz. Er lief fast durch die Straßen, aus Angst, daß er zu spät käme.
      Er hatte sich nicht geirrt. Alle Plätze in der Mensa waren besetzt, und er mußte noch warten. Unter den Essenden sah er einen seiner früheren Universitätsprofessoren. Er wollte schon auf ihn zugehen und ihn begrüßen; aber dann besann er sich und ließ es. Er wußte, daß viele Emigranten nicht an ihr früheres Leben erinnert werden wollten.
      Nach einer Weile sah

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