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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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hierher auf die Bühne zu begeben! Nur durch einen Griff an die Hand, ohne ein Wort, wird die Gedankenübertragung erfolgen und der versteckte Gegenstand gefunden werden!«
      Direktor Potzloch beugte sich vor, als wollte er aufstehen und etwas sagen. Dann begann er zu zögern. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte an seinem Kneifer und blickte sich verschämt um. Dann lächelte er entschuldigend, erhob sich halb, kicherte, setzte sich schnell wieder zurück, gab sich schließlich einen Ruck und schritt ernst, verlegen, neugierig und zaudernd zugleich auf den vor Lachen tobenden Steiner zu.
      Vor dem Podium drehte er sich um. »Nun kopieren Sie das, junger Mann!« ermunterte er Kern selbstgefällig.
      »Das ist nicht zu kopieren!« rief Steiner.
      Potzloch grinste geschmeichelt. »Verlegenheit ist schwer darzustellen, das weiß ich als alter Bühnenhase. Echte Verlegenheit, mein’ ich.«
      »Er ist von Natur verlegen«, erklärte Steiner. »Er wird es schon schaffen.«
      »Na schön! Ich muß jetzt zum Ringelspiel.«
      Potzloch schoß davon.
      »Ein vulkanisches Temperament!« äußerte Steiner anerkennend. »Über sechzig Jahre alt! Jetzt zeige ich dir, was du zu tun hast, wenn du nicht zögern kannst. Wenn ein anderer zögert. Wir haben zehn Reihen Stühle hier. Das erstemal, wenn du dir übers Haar streichst, zeigst du die Zahl der Reihe, wo das Versteckte ist. Einfach soviel Finger, Das zweitemal der wievielte Stuhl von links es ist. Dann faßt du bei dir unauffällig an die Stelle, wo es ungefähr versteckt ist. Ich finde es dann schon …«
      »Genügt denn das?«
      »Es genügt. Der Mensch ist enorm phantasielos in solchen Sachen.«
      »Mir sieht es zu einfach aus.«
      »Betrug muß einfach sein. Komplizierte Betrügereien mißlingen fast immer. Wir werden die Kiste heute nachmittag weiter üben. Lilo hilf auch mit. Jetzt zeige ich dir den Klavierschimmel. Er hat Museumswert. Eines der ersten Klaviere, die je gebaut wurden.«
      »Ich glaube, ich spiele viel zu schlecht.«
      »Unsinn! Such dir ein paar hübsche Akkorde ’raus. Bei der zersägten Mumie spielst du sie getragen; bei der Dame ohne Unterleib flotter und abgehackt. Es hört dir ohnehin niemand zu.«
      »Gut. Ich werde es probieren und es dir nachher vorspielen.« Kern kroch in den Verschlag hinter der Bühne, aus dem ihm das Klavier mit gelben Stockzähnen entgegengrinste. Nach einigem Nachdenken wählte er für die Mumie den Tempeltanz aus »Aida« und für den fehlenden Unterleib das Salonstück »Maikäfers Hochzeitstraum«. Er trommelte auf dem Klavier herum und dachte an Ruth, an Steiner, an die Wochen der Ruhe und das Abendessen, und er glaubte, es nie in seinem Leben so gut gehabt zu haben.
      Eine Woche später erschien Ruth im Prater. Sie kam gerade, als die Nachtvorstellung des Panoramas der Sensationen begann. Kern brachte sie auf einen Platz in der ersten Reihe. Dann verschwand er ziemlich aufgeregt, um das Klavier zu bedienen. Er wechselte zur Feier des Tages das Programm. Für die Mumie spielte er die »Japanische Fackelserenade« und für die Dame ohne Unterleib »Glühwürmchen, schimm’re!« Sie waren effektvoller. Hinterher gab er für Mungo, den australischen Waldmenschen, freiwillig noch den Prolog aus dem »Bajazzo« hinzu, sein Glanzstück, das reichlich Gelegenheit zu Arpeggios und Oktaven bot.
      Draußen erwischte ihn Leopold Potzloch. »Prima!« sagte er anerkennend. »Viel feuriger als sonst! Was getrunken?«
      »Nein«, erwiderte Kern. »Nur eben so eine Stimmung …«
      »Junger Mann!« Potzloch griff nach seinem Kneifer. »Sie scheinen mich bis jetzt betrogen zu haben! Ich müßte Gage von Ihnen zurückverlangen! Von heute an sind Sie verpflichtet, immer in Stimmung zu sein. Ein Künstler kann das, verstehen Sie?«
      »Ja.«
      »Und als Ausgleich spielen Sie von nun an auch bei den zahmen Seehunden. Irgendwas Klassisches, verstanden?«
      »Gut«, sagte Kern. »Ich kann ein Stück aus der Neunten Symphonie; das wird passen.«
      Er ging in die Bude und setzte sich in eine der hinteren Reihen. Zwischen einem Federhut und einer Glatze sah er weit vorn, umwölkt von Zigarettenrauch, Ruths Kopf. Er schien ihm plötzlich der schmälste und schönste Kopf der Welt zu sein.
      Manchmal verschwand er, wenn die Zuschauer sich bewegten und lachten; dann, überraschend, war er wieder da, wie eine ferne, sanfe Vision, und Kern konnte sich nur schwer

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