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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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wäre sie müde auseinandergebrochen, und nur noch Regen rauschte, der Regen, das älteste Schlaflied der Welt.

    ZWEITER TEIL

    10 Der Platz vor der Universität lag in der leeren Mittagssonne. Die Luf war klar und blau, und über den Dächern kreiste ein Zug unruhiger Schwalben. Kern stand am Rande des Platzes und wartete auf Ruth.
      Die ersten Studenten kamen durch die großen Türen und gingen die Treppen hinunter. Kern reckte den Kopf, um Ruths braune Baskenmütze zu entdecken. Sie war gewöhnlich eine der ersten, die herauskamen. Aber er sah sie nicht. Es kamen plötzlich auch keine Studenten mehr. Im Gegenteil: eine Anzahl von denen, die draußen waren, kehrte wieder um. Es schien etwas los zu sein.
      Plötzlich, wie durch eine Explosion hervorgetrieben, quoll ein wirrer, ineinander verfilzter Haufe von Studenten aus der Tür. Es war eine Prügelei. Kern unterschied jetzt auch die Rufe: »Juden ’raus!« – »Haut die Mosessöhne in die krummen Fressen!« – »Jagt sie nach Palästina!«
      Er ging rasch über den Platz und stellte sich am rechten Flügel des Gebäudes auf. Er mußte vermeiden, in die Prügelei zu geraten; gleichzeitig wollte er aber so nahe dabeisein, wie es ging, um Ruth herauszuholen.
      Eine Gruppe von etwa dreißig jüdischen Studenten versuchte zu entkommen. Dicht aneinandergedrängt, schoben sie sich die Treppe hinunter. Sie waren umringt von ungefähr hundert anderen, die von allen Seiten auf sie einschlugen.
      »Haut sie auseinander!« schrie ein großer, schwarzhaariger Student, der jüdischer aussah als die meisten der Angegriffenen. »Packt sie einzeln!«
      Er setzte sich an die Spitze eines Trupps, der mit gewaltigem Geschrei einen Keil in die Gruppe der Juden bohrte und nacheinander einzelne losriß und sie den andern hinwarf, die sie sofort lit Fäusten, Bücherpacken und Stöcken bearbeiteten.
      Kern blickte unruhig nach Ruth aus. Er konnte sie nirgendwo sehen und hofe, daß sie in der Universität geblieben war. Oben auf der Freitreppe standen nur noch zwei Professoren. Einer, mit einem geteilten, grauen Franz-Joseph-Bart und einem rosigen Gesicht, der sich lächelnd die Hände rieb – und ein anderer, der hager und streng, mit unbewegter Miene in das Getümmel hinabschaute.
      Ein paar Polizisten kamen von jenseits des Platzes eilig heran. Der vorderste blieb in der Nähe Kerns stehen. »Stopp!« sagte er zu den beiden anderen. »Nicht einmischen!«
      Die beiden blieben stehen. »Juden, was?«, fragte einer von ihnen.
      Der erste nickte. Dann bemerkte er Kern und sah ihn scharf an. Kern tat, als habe er nichts gehört. Umständlich zündete er sich eine Zigarette an und ging dabei wie absichtslos einige Schritte weiter fort. Die Polizisten verschränkten die Arme und sahen neugierig der Schlägerei zu.
      Ein kleiner jüdischer Student entkam dem Getümmel. Er blieb wie geblendet einen Augenblick stehen. Dann sah er die Polizisten und rannte auf sie zu.
      »Kommen Sie!« schrie er. »Rasch! Helfen Sie! Man schlägt sie ja tot!«
      Die Polizisten betrachteten ihn wie ein seltenes Insekt. Keiner von ihnen erwiderte etwas. Der Kleine starrte sie einen Moment fassungslos an. Dann drehte er sich ohne ein Wort wieder um und ging zurück, auf das Getümmel zu. Er war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als sich zwei Studenten aus dem großen Haufen lösten. Sie stürmten auf ihn zu. »Saujud!« schrie der vorderste. »Der Saujud jammert nach Gerechtigkeit! Sollst du haben!«
      Er schlug ihn mit einem klatschenden Schlag ins Gesicht nieder. Der Kleine versuchte, wieder hochzukommen. Der andere stieß ihn mit einem Tritt vor den Bauch zurück. Dann packten beide ihn an den Beinen und schleifen ihn wie einen Karren über das Pflaster. Der Kleine versuchte sich vergebens an den Steinen festzukrallen. Sein weißes Gesicht starrte wie eine Maske des Entsetzens zurück zu den Polizisten. Der Mund war wie ein schwarzes, offenes Loch, aus dem Blut über das Kinn lief. Er schrie nicht.
      Kern spürte seinen Gaumen trocken werden. Er hatte das Gefühl, auf die beiden losspringen zu müssen. Aber er sah, daß die Polizisten ihn beobachteten, und steif und verkrampf vor Wut ging er zur andern Ecke des Platzes hinüber.
      Die beiden Studenten kamen mit ihrem Opfer dicht an ihm vorüber. Ihre Zähne schimmerten, sie lachten, und ihre Gesichter wiesen nicht die Spur von Bosheit auf. Sie leuchteten einfach nur von aufrichtigem, unschuldigem

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