Liebe die bleibt
ich. Ein verträumtes Lächeln zuckte auf meinen Lippen.
„Gehen wir…“, wiederholte ich pathetisch.
Schweigend zogen wir unsere Jacken an . Und ohne, dass ich etwas gesagt hatte, nahm Augustin das Grabgebinde in die Hand. Ganz selbstverständlich, alles wäre es normal, die Gedanken des anderen in die Tat umzusetzen.
„Ich habe Streichhölzer“, sagte er bestimmt, als er mitbekam, wie ich emsig in der Küchenschublade herumstöberte. Spätestens da wurde mir bewusst, dass ich mich nicht getäuscht hatte: Dieser Mann konnte Gedanken lesen, er war mit mir seelenverwandt.
Für einen Augenblick fehlten mir die Worte , so dass ich ratlos ins Leere guckte.
„Wo liegen deine Eltern begraben? Auf dem Waldfriedhof?“
„Woher…“
„Der Friedhof liegt am nächsten, reine Vermutung“, erklärte er lapidar.
Ich nickte gedankenschwer, als gäbe es nichts mehr hinzuzufügen.
Es dämmerte bereits, als wir das Eingangsportal des Friedhofs betraten. Wir waren nicht die Einzigen, die ihre Lieben zu Heiligabend besuchten. Auf vielen Gräbern brannten Kerzen, ein buntes Lichtermeer, das an ein Laternenfest erinnerte. Zielsicher hastete ich auf das Grab meiner Eltern zu. Obwohl man meinen Orientierungssinn getrost als flatterhaft bezeichnen kann, hätte ich das Grab meiner Eltern mit verbundenen Augen gefunden. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, glaubte ich, ihre Stimmen zu hören. Kein hilfloses Schreien, kein Wimmern, nein, mehr ein lockendes Wispern, das mich wie fremdbestimmt zu ihnen führte.
Heute schienen sie ganz aufgeregt zu sein. Mir kam es vor, als könnte ich die Stimme meiner Mutter hören: „Leila kommt… Leila kommt… Arthur wach auf… unsere Tochter… da, ich kann sie sehen… sie hat einen Mann an ihrer Seite… Arthur, schau doch… sie sieht glücklich aus, unsere Leila… unser Kind…“
„Lauf doch nicht so schnell!“, mischte sich Augustins reale Stimme dazwischen. Er versuchte, mich einzuholen, ohne dass ihm der Grabschmuck aus der Hand fiel. „Deine Eltern laufen uns nicht davon!“
Ich musste unwillkürlich lachen, als er das sagte und mäßigte meine Schritte.
Am Grab angekommen, befreite ich den Sockel des Grabsteins vom Schnee und wienerte mit meiner Hand die verwehten Gravuren blank. Augustin hingegen schaufelte tatkräftig mit beiden Händen den Schnee vom Grab weg, um das Tannengebinde gut zu platzieren. Eine Weile standen wir schweigend da, folgten den Schneeflocken, die sanft auf die Tannenzweige schwebten, aber keinen richtigen Halt fanden. Wortlos reichte mir Augustin die Streichhölzer. Ich zündete die Kerzen an, schweigsam, alle vier.
„Wie lange werden sie wohl brennen?“, fragte ich in die Stille hinein.
Augustin blickte prüfend zum Himmel empor.
„Lange“, sagte er gedämpft. „Es wird gleich aufhören zu schneien.“
Reflexartig griff ich nach seiner Hand, spürte seinen warmen, kräftigen Händedruck, was mich in einen Stimmungstaumel von Geborgenheit, Glück, Dankbarkeit und Trauer versetzte. Gefühlsregungen, die ich in dieser Intensität noch nie verspürte.
Danke, liebes Schicksal, danke, für den Moment, danke , dachte ich. Tränen brannten in meinen Augen. Ich hielt sie nicht zurück und weinte leise vor mich hin. Augustin bemerkte es sehr wohl, drückte meine Hand etwas fester, das Beste, was er in dieser Situation tun konnte. So wie er immer das Richtige tat. Die Schönheit des Schweigens erspürte er, legte ihr keine Worte in den Weg. In diesem Augenblick hatte ich längst aufgehört, dieses Phänomen zu ergründen. Ich nahm es hin wie eine spirituelle Erscheinung, die sich jeglicher Realität entzog. Ich weiß nicht genau, wie lange wir schweigend am Grab standen, wie lange ich mein gedankliches Zwiegespräch mit meinen Eltern führte, so wie ich es immer tat, wenn ich sie besuchte.
„Ich glaube, meine Eltern hätten dich gemocht“, sagte ich an Augustin gewandt. Er lächelte gerührt, drückte mich an sich,
er bemerkte, dass ich anfing zu frieren.
„Leila“, sagte er leise: „Ich will dich nicht bedrängen, aber du hast die Weihnachtsgans im Ofen. Du solltest dich jetzt von deinen Eltern verabschieden.“
Ich schrak aus meinen Gedanken auf , gab mir einen aufgeweckten Klaps auf die Stirn und war froh, dass er mich daran erinnerte.
„Oh, Gott, die habe ich total vergessen, gehen wir schnell .“
„Fröhliche Weihnachten … ich… wir kommen euch bald wieder besuchen“, verabschiedete ich mich von meinen Eltern, dann traten
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