Liebe Hoch 5
weil ich ein Mann bin. Und vermutlich verflucht sie gerade alle Männer – und einen ganz besonders. So wie ich wütend bin auf sie, weil sie eine Frau ist, weil sie ihre Tochter bei sich hat – heute und auch sonst jeden Tag. Und weil sie nicht in einem Kleintransporter wohnen muss.
»Sie wollen nach Stuttgart, ja?«
»Ja.«
»Der Wagen macht wohl nicht mehr mit.«
»Gut erkannt, Sherlock.«
Während ich mit ihr rede, dreht sie sich nicht mal zu mir um, was mich noch wütender werden lässt. Meine Halsschlagader schwillt an und für gewöhnlich schreie ich dann. Aber ich schreie nicht vor Kindern. Das habe ich mir vor einer sehr langen Zeit abgewöhnt.
»Hören Sie …«
Es kostet mich viel Selbstkontrolle, meine Stimmlage normal klingen zu lassen und nicht zu brüllen.
»Wenn Sie eine Mitfahrgelegenheit brauchen, ich könnte Sie fahren.«
WAS ZUM TEUFEL SAGST DU DA?
Das war nicht meine Stimme. Das waren auch nicht meine Gedanken. Das können sie gar nicht gewesen sein! Aber sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Natürlich wird sie mich auslachen, mich vermutlich der Polizei melden. Oder verprügeln. Dieser Frau ist alles zuzutrauen. Ehrlich, dieser Blick gehört eigentlich in das Gesicht von Chuck Norris.
»Wie bitte?«
Ja genau: » Wie bitte?« Was hast du dir dabei gedacht, Ben? Das ist doch totaler Unsinn und klingt nicht wie ein Weihnachtswunder, sondern wie eine billige Anmache eines Psychopathen auf einem Parkplatz. Wenn mir jetzt nicht die richtigen Worte einfallen, wird sie die Bullen rufen. Allerdings hätte ich dann zumindest ein Dach über den Kopf.
»Ich weiß, wie es ist, wenn man an Weihnachten mit einem ganz bestimmten Menschen zusammensein will. Und ich weiß, wie weh es tut, wenn man das nicht sein kann.«
Mein Blick wandert zu Lara, die unbedingt bei ihrem Vater sein will. Das tut einerseits weh – und macht andererseits auch wieder Mut. Kinder können mit einer Wucht vermissen oder vergessen, aber genau das vergessen wir Erwachsenen nur manchmal.
»Sie wollten doch sowieso fahren. Rufen Sie jemanden an.«
»Was?«
Ich wühle meinen Geldbeutel aus meiner Hosentasche und suche nach meinem Personalausweis. Wie verzweifelt diese Aktion auch wirken mag, vielleicht kann ich doch etwas ändern. Wenn schon nicht in meinem, dann vielleicht in ihrem Leben.
»Hier. Mein Personalausweis. Lesen Sie meinen Namen. Mein Nummernschild. Egal. Ich bin kein Psycho. Aber Lara hat zumindest die Chance verdient, an Weihnachten bei ihrem Papa zu sein.«
Stille. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie (im nüchternen Zustand) so viel Blödsinn von mir gegeben, wie in den letzten drei Minuten. Der Stoffbauch, den ich noch immer unter dieser roten Kutte trage, liefert dabei die größte Zugabe in der großen Sich-lächerlich-machen-Vorstellung, die ich gerade gebe. Aber dann stiehlt sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, als sie meinen Perso tatsächlich annimmt und einen Blick auf das relativ aktuelle Lichtbild wirft. Dort trage ich meine braunen Haare ein kleines bisschen länger als im Moment, bin unrasiert und durfte nicht lächeln. Aber vielleicht überzeugen sie meine klaren, blauen Augen. Frauen mögen so etwas ja.
»Also gut, Benjamin Polar, geboren 1980 in Schwieberdingen. Da will ich Ihrer Polarbären-Größe von einsachtundachtzig mal vertrauen.«
Ich lächele zufrieden.
»Einmal Polar-Express nach Stuttgart.«
Sie zückt ihr Handy und wählt eine Nummer, während sie zu Lara sieht und zum ersten Mal heute Abend lächelt.
»Lara, der Weihnachtsmann fährt uns zu Papa.«
Nele, so heißt Laras Mutter, nimmt neben mir auf dem Beifahrersitz Platz, während die Kleine in ihrem Kindersitz auf der Rückbank irgendwo zwischen meinen Habseligkeiten fröhlich aus dem Seitenfenster schaut. Meine ganzen Personalien hat Nele an ihre beste Freundin Sandra weitergegeben. Im Fall einer Entführung würde diese ihren großen und sehr kräftigen Freund – Tobi – anrufen. Der sei nämlich Polizist. Ich glaube von der ganzen Geschichte gar nichts. Allerdings sieht Tobi in meiner Vorstellung tatsächlich sehr gefährlich aus. Und was, wenn er doch Polizist ist? Egal. Ich plane keine Entführung. Ich fahre nur eine kleine Familie in die Kesselstadt, damit sie wieder eine große Familie werden kann. Solche Dinge tut man doch an Weihnachten, oder?
Nein, eigentlich nicht. An Weihnachten überfuttere ich mich für gewöhnlich und liege dann irgendwann glücklich betrunken auf der
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