Liebe in groben Zügen
immer fließen sie aus einem alten Kinderkörper, als würde man nie erwachsen. Oder sie fließen gar nicht, wie an dem Tag, an dem er zwei Schaufeln Erde auf zwei Särge gestreut hatte, die seiner Eltern, noch kurz davor voller Stolz auf einen Neuwagen, 6er-BMW, Cabrio, während das Fahrzeug, das auf ihres prallen sollte, schon unterwegs war (alles, was uns zerstören kann, existiert bereits). Keine Träne also am offenen Grab, wie ein Kindheitsabschluss, in Wahrheit das Gegenteil: Nach seiner Heimat gefragt, würde er immer noch das Tal südlich von Freiburg nennen, die umgebenden Berge im Sommer von rauchigem Grün. Das ganze Klingen dieser Gegend war in ihm, so, wie es aus dem Mund seiner Kinderfrau kam, die nie ein hartes Deshalb kannte, nur ein weiches und oft dunkles Vuudämmhäär . Eine Welt, die Bühls handelsreisendem Vater für den Sohn zu gering war, also schickte er ihn, trotz ein paar Tränen der Mutter, ins Internat Aarlingen an dem Bodenseearm, der sachte zum Rhein wird – im Oktober süßer Fäulnisduft, wenn die Sonne das Fallobst erhitzt, kaum dass die Nebel aufreißen, darüber ein Himmel von rasendem Blau, oft Auslöser absurder Glücksgefühle; für Kristian Bühl Jahre der Freundschaft und anderer, dunkler Dinge, die ganz plötzlich in ihm aufschnellen konnten – das Gedächtnis, es ist taktlos, dazu ohne Sinn für Ästhetik, es haut nur rein.
Nach Abitur und Ersatzdienst dann Studium in Tübingen, alte Sprachen und etwas Philosophie, dazu noch das Nötige, um an Gymnasien unterrichten zu können, und die erste Stelle gleich am Hölderlin in Frankfurt, für ihn die Stadt mit den unbeherzten Hochhäusern, nicht hoch genug, den Atem anzuhalten, aber schon zu hoch, um nur mit der Achsel zu zucken, am Ende aber als Wahlheimat angenommen, bis hin zur Sorge um die Frankfurter Eintracht mit ihrem schwankenden Stand. Er wohnte von Anfang an im Süden der Stadt, jenseits des Mains, in der Wohnung mit den Parfümeriegerüchen, die zweieinhalb Zimmer jahrelang verstopft mit Büchern, Zeitschriften, Ordnern, Kartons, in den Kartons Kleidung und Kleinkram, es gab keinen Schrank, keine Kommode, und am Ende ein radikales Ausmisten, sogar alter Briefe oder Zeug aus der Schulzeit, Mäppchen, Hefte, Material, und dabei auch das Finden von schon verloren Geglaubtem, etwa einer grünen Dose mit Diabolo-Luftgewehrkugeln oder einer Postkarte aus New York, nach ein paar Grüßen die komplette Unterschrift seines Freundes, Cornelius Kilian-Siedenburg, Beweis einer New-York-Eroberung schon als Schüler. Und dann fand sich auch noch ein altes Schwarzweißfoto, sechs mal sechs, von ihm gleich beiseitegelegt. Auf dem Foto ein blondes Mädchen in einem Ruderboot, dunkler Badeanzug, helles Gesicht, weiche Wangen, und unter den geraden, fast japanischen Lidern ein sogenannter tiefer Blick, dazu eine Hand mit Zigarette am breiten Mund: die kleine Pause zwischen zwei Zügen, die er im letzten Urlaub mit den Eltern – er war achtzehn – für den Schnappschuss genutzt hatte. Die junge Raucherin zu Besuch bei ihrer Tante, der am Ossiacher See das Strandhotel Mattrainer gehörte, und am letzten Abend ging er mit ihr am See entlang, obwohl ein Gewitter aufzog; beim Rückweg, eine Abkürzung neben dem Bahndamm, auf einmal strömender Regen, und unter einem überhängenden Busch, kaum geschützt vor dem Prasseln, der Kuss seines Lebens.
Trotz einer schlechten Nacht – wenig Schlaf, viele Gedanken, keine Ergebnisse – war Bühl am Morgen hellwach, das Frühstück auf der Balkonterrasse über den Hotelarkaden. In dem Bereich zwischen Hotel und Hafenbecken jetzt lauter Stände, aufgebaut in der Morgendämmerung, Stände mit allen möglichen Waren und Gedränge davor. Es war der Montagsmarkt von Torri, und obwohl er das Haus noch gar nicht übernommen hatte, kaufte er nach dem Frühstück schon ein paar Lebensmittel, Brot, Schinken, Käse, eingelegte Sardinen und Eier. Das Brot war spröde, es zerfiel, sobald man davon etwas abbrach, und die Spatzen kamen den Möwen zuvor; überhaupt war es ein Ort der Spatzen, furchtlos flogen sie ihm vor die Füße und pickten die Krümel, ja flatterten ihm über Arm und Hand, während die Möwen feige abdrehten, sich mit dem weißgrauen Himmel mischten, einem Sommerende wie zum Greifen – der See so glatt, als ließe sich darauf schreiben, und auf dem Markt der große Ausverkauf. Billige Schuhe, Hüte und Spielzeug, Wäsche für alle Gelegenheiten, Stickereien auf kleinem Dreieck, eine Rose,
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