Liebe in St. Petersburg
an.
Er schüttelte den Kopf. »Der Mensch hat noch seinen Verstand«, sagte er heiser.
»Der macht ihn ja noch wölfischer! Die halbe Welt hungert, und eines Tages wird man uns ihr deshalb zum Fraß vorwerfen. Kennen Sie das Proletariat?«
»Ich habe mich noch nicht damit befaßt, Anna Petrowna.«
»Das sollten Sie aber tun, Gregorij!« Sie schaute zu den fressenden Wölfen. Ein Knäuel balgte sich um die letzten Fleischfetzen. Der Schnee war tiefrot von Blut. »Wissen Sie, daß Ihnen ein Russe bis heute nicht sagen kann, was Freiheit ist? Wir sind die letzten Europäer, die die Sklaverei – bei uns hieß sie vornehmer Leibeigenschaft! – abgeschafft haben. Und das auch nur widerwillig unter dem Druck der allgemeinen Aufklärung.« Sie machte eine weite Handbewegung. »Aber ist das Volk seitdem wirklich frei?«
»Das ist Mamas Lieblingsthema!« Grazina ritt an Gregor vorbei und lachte. »Sie kann sich damit in Eifer reden wie ein Agitator!«
Anna Petrowna ritt nahe an Gregor heran. Ihre schwarzen Augen musterten ihn, und dieser Blick blieb in seinem Gedächtnis haften wie ein Pfeil mit vielen Widerhaken. »Denken Sie darüber nach, Gregorij! Grazina und Sie sind die Zukunft – wir sind eine sterbende Welt!« Damit riß sie ihr Pferd zurück und galoppierte davon.
»Zurück!« rief sie dabei. »Die Jagd ist zu Ende! Wir haben genug Blut gesehen!«
Am neunten Tag von Gregors Aufenthalt traf Graf Michejew in Trasnakoje ein. Wie immer meldeten Meldereiter aus dem nächstgelegenen Dorf seine Ankunft. Es war, als zöge ein Heiliger durch das Land: Wo der General durchkam, standen die Menschen am Weg, Männer, Frauen, Greise und Kinder, zogen die Kappen und verbeugten sich tief. So verharrten sie in demütiger Haltung, bis der Schlitten und die zehn Kosaken an ihnen vorübergeprescht waren.
Im Herrenhaus wurde die Dekoration gewechselt – etwas Treffenderes als diesen Theaterausdruck gibt es nicht. Anna Petrowna zog ihre schweren seidenen Roben an, Grazina Wladimirowna kleidete sich in französische Spitzen. Die Jagdanzüge wurden in einer Kiste auf dem Speicher versteckt. Selbst Luschek, der Obergefreite, wurde in den Sog hineingezogen: Alla weigerte sich, weiterhin bei ihm zu schlafen. »Der Herr schlägt mich tot«, rief sie zitternd, als Luschek kein Verständnis für die Bettflucht zeigte, »er darf nie wissen, wie es zugeht, wenn er nicht in Trasnakoje ist! Er schlägt uns alle tot!«
Wladimir Alexandrowitsch war schlechter Laune; man sah es sofort, als er aus dem geheizten Schlitten stieg und dem Kutscher mit der Reitpeitsche einen zischenden Schlag über die Schultern versetzte. Der Mann im vereisten Pelz zuckte mit keiner Wimper. »Das ist für deine Fahrt über die Höcker!« schrie Michejew. Er trug nicht seine Generalsuniform, sondern einen grauweiß gestreiften Anzug modernen Schnittes. Ein dicker Zobelmantel hing lose auf seinen Schultern.
Die Kosaken sprangen von ihren dampfenden Pferden und standen stramm. Ein Lakai riß die Tür auf, aber nicht Anna Petrowna trat zur Begrüßung aus dem Haus, sondern Gregor von Puttlach. Michejew blieb stehen und schlug die Fäuste zusammen.
»Daß ich Sie als ersten sehe, Gregorij Maximowitsch, ist beinahe schicksalhaft!« sagte er. »Ihretwegen komme ich nämlich so spät. In doppelter Hinsicht: einmal als Vater, zum anderen als Offizier des Zaren!« Er kam auf Gregor zu, klopfte ihm auf die Schulter und hakte sich dann bei ihm unter. »Kommen Sie ins Haus. Es ist verflucht kalt, und Sie stehen da ohne Mantel!«
In der Halle des Herrenhauses nahm der Lakai dem General den Pelz ab und verschwand damit durch eine Seitentür. Von draußen hörte man Lachen und Rufe. Die Kosaken und die Pferde wurden zu ihren Quartieren geführt. Der gezüchtigte Kutscher spuckte aus und traf haargenau die Stelle, wo Michejew gestanden hatte.
»Ihr Deutschen seid ein stures Volk!« sagte Michejew zu Gregor und ging zu einem Spiegel, um sich mit gespreizten Fingern durch den Bart zu streichen. »Ich habe mit Ihrem Botschafter drei Tage lang um Sie gerungen!«
»Die Damen warten im Salon, Wladimir Alexandrowitsch«, unterbrach Gregor ihn. »Außerdem sind der Arzt gekommen und der Pope …«
»Laß sie warten, Gregorij!« Michejew winkte ab. »Was ich mit Ihnen zu reden habe, ist wichtiger. Der Arzt! Bin ich krank? Der Pope! Liege ich im Sterben? Aber so ist Anna Petrowna – immer einen an das Vergängliche erinnern!« Michejew blieb nahe vor Gregor stehen. »Gregorij
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