Liebe in St. Petersburg
sein Pferd, hinter ihm kletterte Luschek in seinen Sattel. Alla hielt ihm die Steigbügel und weinte laut.
»Wir werden reiten müssen, bis wir aus dem Sattel fallen!« sagte Grazina laut. »Wo bleibst du nur?«
»Er hat versucht, mich zu überreden!« sagte Anna Petrowna, bevor Gregor antworten konnte. »Ich sollte mitkommen.«
»Aussichtslos, Grischa!« Grazina schüttelte den Kopf. »Wenn ich es nicht geschafft habe …«
»Laßt euch segnen, Kinder!« sagte Anna Petrowna laut.
Plötzlich war es still vor dem Haus. Selbst die Pferde schienen zu ahnen, daß es eine feierliche Minute war. Sie standen wie angewurzelt, scharrten und prusteten nicht und bewegten kaum die Köpfe.
Der Haushofmeister in seiner betreßten Uniform trat hinter Anna Petrowna, eine irdene Schüssel mit Salz in den Händen. Alle senkten tief die Köpfe … Neben Luscheks Pferd fiel Alla auf die Knie und faltet die Hände, als knie sie vor der Ikonastase.
»Gott sei mit euch!« rief Anna Petrowna mit weithin schallender Stimme. Sie griff in das Salz und streute es über die gesenkten Köpfe – immer und immer wieder, zehn Hände voll, bis Grazina und Gregor das Salz in den Haaren hing wie kristallener Staub. »Gott segne euch! Er begleite euch auf allen Wegen und gebe euch Kraft für alle Leiden und alle Freuden. Vergeßt Rußland nicht, wo immer ihr sein werdet! Jeder Mensch vergeht, sein Leben ist kurz, ein Hauch nur in den Jahrhunderten und Jahrtausenden … aber Rußland wird ewig leben! Denkt daran, behaltet es in euren Herzen – auch in der fernsten Einsamkeit –, das wird euch Kraft geben!«
Die letzte Hand voll Salz … Tschugarin, der harte Kerl von Kutscher, schluchzte laut und auch Luschek standen die Tränen in den Augen, aber er dachte dabei weniger an Rußland als an Berlin und ob er es jemals wiedersehen würde …
»So, und nun reitet wie der Teufel!« schrie Anna Petrowna, riß dem Haushofmeister die irdene Schüssel aus den Händen und warf sie mit Wucht auf den von der Sonne harten, ausgetrockneten Boden. Sie zersprang in hundert Scherben.
»Worauf wartet ihr? Los! Los!«
Die Pferde galoppierten an. Alla kniete noch immer vor Luscheks Pferd. Er riß es zurück, gab ihm dann die Hacken und jagte dicht an Alla vorbei den anderen nach. Eine Staubwolke hüllte die kniende Magd ein, und als sie wieder verwehte, lag die Magd auf der Erde, die Schürze über den Kopf gezogen.
»Bringt sie ins Haus«, sagte Anna Petrowna heiser und drehte sich weg. »Rußland muß sich daran gewöhnen, ein Land der Witwen zu werden …«
Sie ging, um ihre lederne Jagduniform anzulegen. An einem breiten Gürtel hingen Hirschfänger, Krummdolch und eine Pistole. Doch das war nicht das auffälligste, denn um den Hals trug sie den Orden, den ihr Zar Nikolaus II. vor drei Jahren verliehen hatte, als Anna Petrowna Michejewa die Freundin der Zarin wurde: Es war der goldene russische Doppeladler an einem weißroten Seidenband.
So wartete Anna Petrowna auf die Kosakenabteilung, die Gregor von Puttlach gefangennehmen sollte.
Sie brauchte nicht lange zu warten.
Als die Morgensonne blendend hell den wolkenlosen blauen Himmel erstiegen hatte, sah sie die Kolonne über die Allee zum Herrenhaus preschen.
Sie haben genau drei Stunden Vorsprung, dachte Anna Petrowna. Drei lumpige Stunden. Wenn ich die Kerle festhalten kann, werden es mehr werden …
Der Suchtrupp – es waren jetzt zehn Kosaken und zwei Offiziere, denn sie hatten in der Kleinstadt Wladinoschosk Verstärkung erhalten – hielt vor dem Herrenhaus. Ihr Kommandeur, ein Rittmeister, sprang aus dem Sattel. Ein Lakai wartete vor der Tür.
»Wo ist die Gräfin Michejewa?« brüllte der Offizier. »Ich habe einen Befehl des Großfürsten Nikolai!« Er lief die Stufen hinauf und stieß den Lakaien zur Seite. »Aus dem Weg, Kretin!« Dann stürmte er in die weite pompöse Halle. Seine Schritte hallten laut auf dem Marmorboden.
»Wo sind Sie, Gräfin?« schrie der Offizier. »Geben Sie den fahnenflüchtigen Deutschen heraus!«
»Jetzt ist es soweit!« sagte Anna Petrowna zu sich selbst. Sie hatte im Salon gewartet. Noch einmal ordnete sie ihre aufgesteckten schwarzen Haare, schob dann beide Hände in den breiten Ledergürtel und öffnete die Tür.
»Hier bin ich!« sagte sie scharf und der Rittmeister fuhr herum. »Verdammt, nehmen Sie Ihre Mütze ab, wenn Sie zu mir kommen! Oder soll ich sie Ihnen vom Kopf schießen?«
Eine Pistole lag plötzlich in ihrer Hand und zielte auf den Kopf
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