Liebe Isländer: Roman (German Edition)
sogar beginnen würden, Verse zu rezitieren oder zu reimen und zu singen. Darüber philosophierend, dass noch nicht alleHoffnung verloren sei. Noch gäbe es junge Menschen, denen ihre Nation und ihr Vaterland etwas bedeuteten. Aber jetzt war alles total vermasselt. In dem Moment, wo ich das Lehrerzimmer betreten hatte, war ich wieder zum Schulkind geworden. Und hatte obendrein begonnen, die Lehrerin zu belügen: »Ja, also, ich verkaufe Bücher. Aber ich besuche auch die Schulen und verschenke sie.«
»Ich verstehe. Das heißt, du bist Buchhändler«, sagte die Lehrerin. »Das ist wohl kein großes Business, die Bücher zu verschenken? Warum bist du so großzügig?«
Um die verschmitzte Lehrerin aus Hellissandur bei ihrer ersten Begegnung mit dem kopflosen Reisenden aus Reykjavík nicht noch mehr zu verwirren, beschloss ich, das mit dem Buchhändlertitel nicht zu korrigieren, und antwortete munter: »Ist man nicht innerlich irgendwie immer Student?«
Nun war sie es, die ein Lachen vorgab. Bot mir dann schließlich einen Kaffee an und auf dem Sofa Platz zu nehmen. Wahrscheinlich wollte sie sich noch ein wenig länger über diesen komischen Kauz amüsieren. Oder sie hatte Mitleid mit mir. Der Mann am Telefon sagte noch einmal: »Die Dinge müssen natürlich ihren Gang gehen.« Dann legte er auf und schaute mich desinteressiert an: »Du willst uns also Bücher schenken. Na, so was.«
Die Lehrerin reichte mir eine Kaffeetasse und setzte sich zu uns. Nach einem forschenden »Jaja« und flatternden Blicken aus dem Fenster begann der resignierte Mann das Gespräch: »Wie war die Bergstrecke?«
Sie informierten mich darüber, dass an der Schule 115 Schüler seien und dass fünfundneunzig Prozent der Dorfbewohner von der Arbeit bei der Reederei in Rif lebten. Dass die Preise des Elektrowarenladens Blumenfeld in Hellissandur vergleichbar seien mit denen der Geschäfte im Süden, in Reykjavík. Zumal die Leute aus dem ganzen Westland dorthin kämen. Und dann, dass Gulli Bergmann damit begonnen habe, am Fuße des Gletschers ein New-Age-Dorf zu errichten. »Achtzehn Häuser, habe ich gehört«, fügte die verschmitzte Lehrerin hinzu,fast so, als plaudere sie ein Geheimnis aus. Eigentlich legte sich jedes Mal ein geheimnisvoller Schein auf ihr verschmitztes Gesicht, wenn sie etwas sagte. Und meistens endeten ihre Sätze mit »habe ich gehört«. Das ging mir bald auf die Nerven. Auch wenn sie wohl ein außergewöhnlich gutes Gehör hatte, konnte ich nichts von dem, was sie sagte, ganz für voll nehmen. Sie übernahm keine Verantwortung. Konnte so geheimnisvoll sein und stolz darauf, das »gehört« zu haben, was sie mir mitteilte. Und wenn es sich als falsch herausstellte, dann hatte sie es eben »nur gehört«. Irgendwie befand sie sich zwischen dem, was sie »gehört« hatte, und sich selbst. Existierte kaum.
Der Resignierte dagegen hatte nicht so viel gehört und verwies mehr auf die nackten Tatsachen. Zum Beispiel, dass die Verwaltung der gerade zusammengeschlossenen Gemeinde Snæfell jetzt auf dem »Sande«, in Hellissandur, wäre. Seine Stimme wurde entschlossener, als er fortfuhr: »Vor allem, mal eben hierher zu düsen ist für die Leute aus Ólafsvík genauso wie für die Reykjavíker von Breiðholt runter in die Innenstadt zu fahren, nur ohne rote Ampeln auf der Strecke.«
»Ja, das ist etwas, was einen völlig verrückt machen kann in der Stadt«, sagte die Lehrerin. »Diese roten Ampeln.«
Der Resignierte war außerordentlich geschickt darin, die Pantoffeln an den Zehen baumeln zu lassen, und während wir uns unterhielten, spielte er mit ihnen, ließ sie auf dem Fuß heruntergleiten und griff sie dann mit dem großen Zeh. Dort ließ er sie ein wenig hüpfen und kickte sie dann wieder hoch auf den Fuß. Seine Fertigkeit darin war so enorm, dass er dabei nie auf den Fuß schaute. Er hätte das wahrscheinlich als Mogelei empfunden.
Obwohl ich ins Lehrerzimmer hereingelassen wurde, hielt man mich auf einer gewissen Distanz, möglichst nah an der Straße, und am meisten unterhielten wir uns über den Verkehr. Da solle sich bald alles ändern, wenn der Tunnel durch den Hvalfjörður komme und die Strecke nach Ólafsvík viel besser würde. »Guck einfach mal am Berg hoch, wenn du zurückfährst, dann siehst du die alte Straße. Die war kreuzgefährlich«, sagte der Mann. »Und die Búlandshöfði-Strecke istauch schon viel besser geworden, als sie war«, ergänzte die Lehrerin. Búlandshöfði? Wo war
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