Liebe ist ein Kleid aus Feuer
war, als Raymond sie jahrelang im Stift eingesperrt hatte, noch, was er in jener Zeit erlebt hatte. Nur eines war ihr inzwischen bewusst: dass dieser Sigmar von heute kaum noch Ähnlichkeit mit jenem linkischen, stets aufbrausenden Jungen besaß, der damals seinen Falken verschreckt hatte.
»Du hast es tatsächlich getan?« Seine nasse Hand berührte ihren freien Nacken.
»Natürlich.« Sie machte sich ganz steif. War sie ohne ihr langes Haar jetzt hässlich für ihn? Fand er sie abstoßend?
Sigmar machte keine Anstalten wegzugehen oder sich zu bedecken.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Eila!«
»Ich hab keine Angst.« Nicht die ganze Wahrheit, wenn sie ehrlich war. »Ich hoffe nur, es ist bald vorbei.«
»Übermorgen, wenn alles glatt geht. Den Plan, Adelheid in einem Korb vom Turm herabzulassen, mussten wir leider aufgeben. Kein Seil der Welt könnte sie sicher auf dem langen Weg in die Tiefe tragen. Jetzt kommt es darauf an, ob der alte Geheimstollen noch bis zum Ende begehbar ist. Ist dies der Fall, können wir nur noch beten, dass dein Pferd schnell genug läuft. Und du dich dabei im Sattel halten kannst.«
»Dass ich einigermaßen reiten kann, weißt du ja.«
»Besser als mancher Ritter, das hast du bereits bewiesen.«
Sie spürte, wie Sigmars kühle Lippen ihren Nacken streiften. Ihre Haut begann zu prickeln. Ein süßes, sehnsuchtsvolles Gefühl erfasste sie.
»Aber trotzdem ist und bleibt es ein gefährliches Abenteuer.«
»Was soll schon so gefährlich daran sein?«, erwiderte sie.
Sein warmer Atem an ihrem Hals. Auf der Stelle hätte Eila nach hinten sinken können – und ärgerte sich im gleichen Augenblick über ihre Schwäche. Gut, dass Landos Ring unverrückbar an ihrem Finger saß und sie niemals vergessen ließ!
»Sie könnten sehr wütend werden, wenn sie entdecken, dass du nicht Adelheid bist.« Jetzt spürte sie Sigmars kühlen, feuchten Körper, der sich von hinten an sie schmiegte. Es geschah ohne Drängen, ohne forderndes Verlangen. Eila empfand es wie eine Umarmung des Sees, der sie lebhaft, aber dabei erstaunlich zart umfing.
»Wir müssen eben schneller sein als sie und klüger dazu.« Es fiel ihr schwer, ruhig weiterzureden.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte Sigmar. »Keine andere im ganzen Reich würde das wagen. Der Herzog und die Herzogin werden dir auf ewig dankbar sein …«
»Bekanntlich kann man das Fell des Bären erst verteilen, nachdem man ihn erlegt hat«, sagte Eila. »Noch ist Adelheid nicht frei.«
Hatte sie ihn mit ihrer Direktheit ernüchtert?
Jedenfalls löste Sigmar sich plötzlich von ihr. Das süße, wehe Gefühl, das sie eben noch ganz willenlos gemacht hatte, blieb jedoch zu ihrer Überraschung eine Weile bestehen.
»Was immer auch geschieht, ich werde dich beschützen«, hörte sie ihn schon ein Stück entfernt sagen, »das hab ich deinem Vater versprochen. Und heute verspreche ich es dir.«
Als sie sich jetzt zu ihm umwandte, konnte sie seinen Gesichtsaudruck nicht mehr erkennen. Sie sah nur noch seine Silhouette – die eines kräftigen jungen Mannes mit breiten Schultern, dessen Schopf so blond war, dass nicht einmal die Dunkelheit ihn vollständig verschlucken konnte.
MARIÄ HIMMELFAHRT 951
STIFT GANDERSHEIM
Roses Körper schmerzte, war steif und starr vom langen Liegen geworden, und plötzlich verströmte der frische Kräuterbund in der Ecke seinen Duft so intensiv, dass ihr beinahe übel wurde. Mit den anderen frommen Schwestern hatte sie ihn gesammelt und gebunden; heute, während der Messfeier, hatte er seine Weihe erhalten. Er erinnerte sie an etwas, das sie beinahe vergessen hatte: dass Leben Freude sein konnte und ständige Veränderung.
Sie lag bäuchlings auf dem gestampften Lehmboden, die Arme weit ausgebreitet, die Beine geschlossen: das Zeichen des Kreuzes. Seit Stunden betete sie regungslos in dieser Position zur Mutter Gottes.
Es reichte bei weitem nicht, die Andachts- und Messzeiten einzuhalten, sich den Regeln und Vorschriften des Stifts zu unterwerfen und alles Böse aus Kopf und Herz zu verbannen. Die göttliche Jungfrau verlangte mehr, verlangte alles von ihr, so ihre Überzeugung. Kein Opfer war Rose zu groß erschienen, keine Anstrengung, die sie nicht auf sich genommen hätte. Sie hatte länger gebetet, noch fleißiger kopiert und im Speisesaal über viele Tage hinweg bei den Mahlzeiten nur so wenig aus der Schüssel genommen, dass inzwischen jedes Gewand an ihr schlotterte. Ihre Gesundheit war ihr vollkommen
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