Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
Die kleinen Kuchen schmeckten lecker, und ich war dankbar dafür, dass meine Freunde um mich herum waren, aber sie waren eben nicht meine Familie. Mom hatte mich am Morgen ihrer Zeit angerufen, als sie gerade den Truthahn aus dem Backofen zog und auf das Eintreffen der Familie wartete. In Italien war es bereits Nachmittag. Ich brachte gerade die Kinder, die ich betreute, zu ihren verschiedenen Sportkursen und schwor mir, während ich den Vespas auf der Straße auswich, nie wieder Thanksgiving außerhalb von Amerika zu feiern.
Zu Weihnachten flog ich nach Hause. Ich machte mich sorgfältig zurecht, bevor wir zu meiner Tante gingen, weil ich ein halbes Jahr lang von zu Hause weg gewesen war und wirklich gut aussehen wollte, wenn alle mich sahen. Ich trug ein schwarzes Wickelkleid, das ich mir in Venedig gekauft hatte, und mit Strass besetzte Satinpumps. Meine Haare steckte ich auf, und eine passende Kette fand ich in Moms Schmuckkasten. Ich wurde mit großem Hallo begrüßt, und als wir an Tante Loris riesigem Weihnachtsbaum Fotos machten, blickte ich durchs Zimmer zu Grandpa, der über den Aufruhr, den seine Enkel verursachten, lächelte. Es war jedoch nicht zu übersehen: Er saß im Rollstuhl.
Beim Essen stimmte ich in die allgemeine Fröhlichkeit mit ein, zwinkerte Grandpa zu und tat so, als sei dieses Weihnachtstreffen so wie die anderen zuvor, aber insgeheim wussten wir alle, dass es das letzte Weihnachten mit Grandpa sein würde. Als er einen Monat später starb und ich dasselbe schwarze Kleid anzog, um die Trauerrede zu halten, wurde mir klar, warum ich mich an Weihnachten mit solcher Sorgfalt zurechtgemacht hatte: Ich wusste, dass er mich zum letzten Mal sehen würde.
Dieses Jahr versetzt es mir einen Stich ins Herz. Wie kann die Familie feiern, wenn die Person, die wir am meisten geliebt haben, nicht mehr da ist? Tante Anna, die Frau von Grandpas jüngstem Bruder (und meine Großtante; als ich acht war, hat sie mir beigebracht, wie man Gnocchi macht), schickt mir vor Thanksgiving eine E-Mail.
Hallo Liebes,
ich hoffe, du und deine Familie feiert ein wundervolles Thanksgiving mit deiner Grandma. Sie sagt, der Gedanke an die Feiertage stimmt sie melancholisch. In solchen Zeiten vermissen wir unsere Liebsten am meisten.
Pass gut auf dich auf. Gott segne dich.
Alles Liebe,
Tante Anna und Onkel Frank
Als Teil ihres Trauerbegleitungsprogramms haben die Schwestern im Hospiz Grandma erzählt, dass manche Familien für die Verstorbenen einen Stuhl am Tisch frei lassen und ein Gedeck auflegen. Grandma sagt, dass sie das auf keinen Fall aushielte. Ich hingegen frage mich, ob es nicht einen Versuch wert wäre, aber ich kann sie ja nicht dazu drängen. Wenn es mir schon schwerfällt, Weihnachten ohne Grandpa zu verbringen, wie mag es dann erst Grandma gehen. Sie meidet Kaufhäuser, weil sie sagt, sie kann die Dekoration und die Musik nicht ertragen. Der Geist der Weihnacht löst bei ihr das genaue Gegenteil dessen aus, was beabsichtigt ist.
Zwei Sonntage vor Thanksgiving gehe ich mit ihr zu einem Trauervortrag im Krankenhaus. Der Titel ist »Feiertagshoffnung«, und es geht darum, wie man mit den Festlichkeiten im ersten Jahr nach dem Tod eines Angehörigen zurechtkommt. Grandma meint, der Vortrag richte sich wohl speziell an Witwen, aber ich merke ihr an, dass sie nicht alleine dorthin gehen möchte. Da mich der psychologische Aspekt interessiert, begleite ich sie.
Bei den etwa ein Dutzend Personen, die um den Tisch herumsitzen, sind alle Altersgruppen vertreten. Ich höre, wie die Frau, die uns gegenübersitzt, zu ihrem Mann sagt, sie glaube, sie halte das nicht durch. Ich bekomme mit, dass sie ein Kind verloren haben. Auf einem langen Tisch an der Wand liegen bunte Prospekte über die verschiedenen Phasen des Trauerns. Grandma nimmt ein paar und flüstert mir zu, dass ihr die meisten viel zu ernst seien. Ich nehme mir je einen der unterschiedlichen Prospekte.
Die Vortragende ist eine große Frau etwa Anfang sechzig. Ihre Haut ist jedoch so wettergegerbt, dass sie älter aussieht. Sie hat einen Doktor in Erziehungswissenschaften und arbeitet normalerweise mit trauernden Kindern, doch nachdem sie sich gesetzt hat, erklärt sie, warum ihre Augen so traurig sind. Sie war achtundzwanzig und hatte zwei kleine Kinder, als ihr Mann plötzlich an Krebs starb, und dann ist ihr Sohn mit siebenundzwanzig bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Sie sagt, sie kann sich in Trauernde gut hineinversetzen, weil sie die
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