Liebe ist stärker als der Tod
Schluck Wein gegeben und war ein paarmal herübergekommen, um zu sehen, wie seine Mühle in den Augen eines Malers aussah.
Er war es auch, der Pierre verkrümmt im Gras fand, gelb im Gesicht, verzerrt wie eine Fratze, die Hände gegen den Leib gepreßt und sich hin und her wälzend in unerträglicher Qual. Er fragte nicht viel, packte sich Pierre auf den Rücken, der gewöhnt war, schwere Säcke zu tragen und für den der Maler ein leichtes Bündel war, und fuhr ihn mit ›Mes Rues‹ nach Amphise, einem Dorfflecken, der keine Besonderheiten besaß als die, daß in ihm ein Arzt wohnte.
Warum sich Doktor Rombard ausgerechnet in Amphise niedergelassen hatte, wußte niemand, und es gab auch keine Erklärung dafür, denn wer hier krank wurde, kurierte sich mit jahrhundertealten Hausmitteln selbst aus oder – wenn es ganz hart kam – brachte man ihn nach Arles ins Spital. Selbst der Arzt im größeren Le Sambuc, wo es sogar eine Erste-Hilfe-Station gab, hatte wenig zu tun und widmete sich mehr der Bienenzucht als einer medizinischen Weiterbildung durch Lektüre von Fachzeitschriften, weil das völlig nutzlos vertane Zeit war. Mit Honig war etwas anzufangen … mit nuklearer Medizin dagegen hier überhaupt nichts.
Dr. Rombard war deshalb sehr erstaunt, daß man einen anscheinend Schwerkranken in sein Haus trug – nach Müllerart lang über die Schulter – statt ihn sofort nach Le Sambuc oder Arles zu bringen.
»Ein Maler, Monsieur Docteur«, sagte der Müller und lud Pierre auf dem Sofa ab. »Malt meine Mühle und liegt plötzlich im Gras. Sehen Sie sich ihn einmal an. Gestern erzählt er mir noch, er käme aus Paris, und so sah er auch aus … heute sieht er wie ein Chinese aus, so gelb …«
»Es ist gut, Lucien«, sagte Doktor Rombard. »Ich rufe dich wieder.«
Er schloß hinter dem Müller die Tür, kam zu Pierre zurück und fühlte zunächst, was jeder Arzt gern tut, den Puls. Pierre lag mit geschlossenen Augen und schweißüberströmt, aber nicht mehr verkrümmt auf dem Sofa. Der Anfall war vorbei … die Taubheit in den Gliedern kam wieder. Aber er wußte jetzt ja: Auch das geht vorbei.
»Ich bin Pierre de Sangries«, sagte er mühsam, als Doktor Rombard seine Hand losließ.
»Doktor Rombard. Haben Sie diese Anfälle öfter?«
»Das war Nummer vierundzwanzig, Doktor.« Pierre versuchte zu lächeln. »Ich führe Buch darüber.«
»In welchem Zeitraum?«
»Seit über zwei Jahren …«
»Natürlich waren Sie in Paris bei einem Arzt …«
»Ja.« Pierre drehte den Kopf zu Doktor Rombard. Ein faltiges Gesicht, umrahmt von weißen Haaren, sah ihn an. Augen mit der Güte, die alles verzeiht. Blaue Augen, in die das Alter noch nicht eingedrungen war wie in die Haut und in die Haare. »So wie Sie habe ich mir als Kind Gott vorgestellt«, sagte Pierre leise. »Ist das nicht verrückt, daß ich jetzt an so etwas denken muß?«
»Es würde mich interessieren, was mein Kollege in Paris diagnostiziert hat«, sagte Doktor Rombard geduldig.
»An was würden Sie denken, Doktor?«
»Sind Sie zu mir gekommen, um mit mir Ratespiele zu machen?«
»Ich wollte nicht zu Ihnen. Der Müller hat mich wie einen Sack einfach aufgeladen. Es geht mir auch schon wieder besser.« Pierre richtete sich auf, aber Doktor Rombards Hand drückte ihn aufs Sofa zurück. Er hatte mehr Kraft im Arm, als Pierre ihm zugetraut hatte.
»Sie bleiben liegen! Ich habe Sie noch nicht untersucht. Wenn Sie es wünschen, dann …«
»Bitte, Doktor.« Pierre schob sein Hemd hoch und die Hose herunter. Sein Leib lag frei. »Ich bin gespannt, was Sie sagen …«
Doktor Rombard untersuchte schnell, tastete den Leib ab, die Gallengegend, die Leber, die Milz, drückte auf die Nieren. Dann zog er Pierres Hemd wieder über den knochigen Leib. »Was ich sage?« meint Doktor Rombard. »Ohne eine Röntgenuntersuchung kann ich gar nichts sagen. Es kann vielerlei sein. Gallensteine, eine chronische Hepatitis, eine verschleppte Pankreasentzündung … Verdammt, soll ich Ihnen helfen – oder soll ich Sie 'rausschmeißen?«
»Das eine können Sie nicht, und das andere tun Sie nicht.« Pierre setzte sich hoch, und jetzt drückte ihn Doktor Rombard nicht mehr zurück. »Meine Krankheit hat eine lange Vorgeschichte. Sie fängt eigentlich schon damit an, daß meine Mutter ein uneheliches Kind bekam. Mich! Die große Schande der Familie de Sangries. Man versteckte meine Mutter bei Tavaux, dort starb sie an einer Blutvergiftung, ich kam in ein Waisenhaus, weil
Weitere Kostenlose Bücher