Liebe ist stärker als der Tod
in den Kaffee gepißt, seine Freunde wollen ihn feiern, und er verkriecht sich, als stinke er. Erklären Sie mir das! Ihr Russen habt eine Begabung, in Seelen zu lesen.«
»Ich beobachte ihn genau, Madame.« Wladimir Andrejewitsch verschlang wieder den warmen Kuchen schneller, als man ihm neue Stücke von der Ablage am Backofen nachreichen konnte. »Er führt mit sich selbst einen mörderischen Kampf. Wie war er, bevor er Ev ins Haus brachte?«
»Wie ihr alle, ihr Halunken. Ohne Geld, aber immer gegen den Wind spuckend, im Bett mehr Weiber, als er Hemden hat, mit seinen Freunden – der Teufel hole sie manchmal! – herumstrolchend wie streunende Hunde. Fürst – er war glücklich!«
»Und seit Ev bei ihm ist?«
»Arbeitet er wie ein Ochse. Sie wissen es doch: frühmorgens in den Markthallen, nachmittags als Reklamezeichner, abends vor seinen Gemälden. Und nachts hat er Angst vor Ev, sitzt bei mir herum und erzählt von seiner Mutter. Sie muß eine schöne Frau gewesen sein, ein Engel. Und dann redet und redet er, als ob er nur noch wenig Zeit habe –«
»Vielleicht ist es das, Madame?« sagte Globotkin ernst. »Pierre verfällt – wir alle sehen es.«
»Ich doch auch!« Madame Coco wischte sich über die Augen. Vom linken Lid blieb die künstliche Wimper an ihrer Hand kleben, es kümmerte sie wenig. Sie schüttelte sie weg, und sie flog wie eine Spinne über den Tisch auf den Kuchen von Pjotr Simferowitsch Dolokin, Taxifahrer Nr. 1391, Sohn des ehemaligen Grafen Dolokin aus Tjumen. Pjotr Simferowitsch nahm die Wimper weg, schnippte sie zur Erde und aß den Kuchen weiter. »Aber wer bekommt ihn zu einem Arzt?«
»Wir alle, Madame!« sagte Wladimir Andrejewitsch.
»Mit Gewalt!«
»Wenn's sein muß, natürlich!«
»Und was ist dabei gewonnen, Fürst?«
»Wir wissen mehr, Madame.«
»Ob das von Nutzen ist?«
Es war eine Frage, die Fürst Globotkin nicht mit einem guten Gewissen beantworten konnte, und deshalb schwieg er. Madame Coco verstand ihn auch so und knallte ihm ein neues Stück dampfenden Apfelkuchens auf den Teller.
Es war schon spät, als endlich der letzte das Haus verlassen hatte. Zuletzt verabschiedete sich der Nachbar, Monsieur Poissant, ein graues Männchen, bei dem die Gefahr bestand, daß er quer unter Madames Nase klebte, wenn sie tief einatmen würde. Monsieur Poissant war einmal Schriftsteller gewesen und hatte zwei Romane, drei Novellen, ein Drama über Richelieu und – laut seiner Liste – 1396 Kurzgeschichten geschrieben. Gedruckt – in 47 Jahren – waren 249 Stories. Daß man davon nicht leben konnte, war klar, und so hatte Monsieur Poissant in Anlehnung seines Namens eine Poissonnerie, eine Fischhandlung aufgemacht, die er vor vier Jahren verpachtet hatte. Aber der Geruch nach Hering klebte noch immer in seinen Poren.
»Madame«, sagte Poissant zum Abschied als letzter der Gäste, »ich muß Ihnen etwas verraten, aus tiefster Dankbarkeit, daß Sie mich nicht bei der Einladung vergessen haben: Ich habe Monsieur de Sangries vor etwa drei Wochen an der Seine gesehen. Er saß an der Pont de la Tournelle, hielt sich den Bauch fest, krümmte sich, und mir schien, als rannen ihm Tränen über das verzerrte Gesicht. Er konnte mich nicht bemerken … ich stand hinter der Markise eines Bouquinisten und beobachtete ihn lange. Später stand er auf und ging mit unsicheren Schritten davon. Man möchte fast sagen: Er schwankte wie ein Betrunkener, aber ich könnte schwören, er hatte nicht einmal Wasser getrunken.«
Madame Coco bedankte sich bei Monsieur Poissant und stellte ihm in Aussicht, bald wieder eingeladen zu werden, was sich in der Rue Princesse sicherlich schnell herumsprechen und Poissants Ansehen dort erheblich steigern würde. Dann war sie allein inmitten eines Chaos' aus Tellern, Tassen, Weinflaschen, Kuchenkrümeln, Kuchenresten, leeren Zigarettenschachteln, schmuddeligen Tischtüchern, einigen Brandflecken von Zigaretten, einem vom Besitzer vergessenen schweinischen Foto, das er herumgezeigt hatte, und einem Dunstgemisch aus kaltem Rauch, Kaffee, frischem Apfelkuchen, Männerschweiß, Madames eigenem umwerfendem Parfüm und dem Überbleibsel von Darmausdünstungen, was bei frischem Kuchen unausbleiblich und damit menschlich ist.
»Mon petit Pierre«, sagte Madame leise und setzte sich mitten in dieses Chaos. »Du darfst nicht krank sein! Ich zerschlage jeden Altar, das schwöre ich dir, Gott, wenn du diesen Menschen wegnimmst, bevor er die Gabe, die du ihm geschenkt
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