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Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
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total. Die anderen Kinder spielten mit Tülltüchern, er warf sie zu Boden. Immer war er verletzt. Einmal schlug er sich beim Fahrradfahren die Zähne aus, einmal fiel er in ein Gülleloch. Er schlug sich die Knie auf, rannte vor ein Auto. Er erkannte Gefahr nicht. Im Kindergarten wie in der Grundschule befremdete er mit seinem Verhalten die Lehrer. Er störte den Unterricht, indem er pausenlos und geräuschvoll mit seinem Bleistift spielte, er vergaß viel, war zappelig und zerstreut. Pia Jaeggi war ein regelmäßiger Gast im Schulhaus. Sie versuchte, die Wogen zu glätten und um Verständnis zu bitten. Weil David in seiner Entwicklung etwa zwei Jahre hinter den Kindern seines Alters zurück war, hatte er kaum Freunde. Pia Jaeggis Ehrgeiz hält sich in Grenzen, sie setzte ihre Kinder nie auf jenen Lustgewinn an, der im schulischen Wettbewerb zu holen sein soll. Trotzdem erschütterte es ihr Selbstverständnis, einen Sohn zu haben, der schulisch versagte. Es war eine Enttäuschung, auch für ihren Mann, beide waren sie Lehrer, er in der Sekundarstufe, sie in der Grundschulstufe.
    Mit neun bekam David die Diagnose Psychoorganisches Syndrom ( POS ), heute würde man von Aufmerksamkeitsdefizitstörung ( ADS ) reden. Jetzt hatten sie für seinen Zustand einen Namen und für seine Schwächen eine Erklärung. Das erleichterte sie und belud sie gleichzeitig mit Schuld. Sie hatten ihm oft Unrecht getan, waren ungeduldig und vorwurfsvoll gewesen, wo er doch gar nicht anders konnte. Jedenfalls veränderte die Diagnose ihren Blick auf den Sohn. Als er später in die Pubertät kam und sie öfter mal herausforderte, konnte sie gelassen bleiben. Seine Ausfälligkeiten ertrug sie viel leichter als die seiner älteren Schwester, mit der sie sich in viele laute und enervierende Kämpfe verstrickte.
    Sie hat David geschont, vielleicht zu sehr, denkt Pia heute. Er musste nie mithelfen im Haushalt. Er war äußerst empfindlich beim Essen; in seinem ganzen Leben hat er keine einzige Frucht angerührt, keinen Apfel, keine Heidelbeere, keine Kiwi. Er wollte nicht, und sie hat ihn nie gezwungen, seine Geschmacksvorurteile zu überprüfen. Sie hat ihn wohl eher unterschätzt. Auch bezüglich seiner Schulleistungen. Nach der POS -Diagnose hieß es nicht mehr, er sei zurückgeblieben. Jetzt hieß es, er sei sehr intelligent, es fehle ihm nur einfach die Konzentration. Da waren sie als Eltern gefordert. In der Sekundarstufe war es vor allem ihr Mann, der mit David zusammen dessen Schwächen auszugleichen verstand. Während der Lehre blühte er richtig auf. Er erschien Pia Jaeggi wie ein anderer Mensch – selbstständig, selbstbewusst, er liebte die Arbeit mit den Händen. Er erwarb einen Fähigkeitsausweis als Automatiker und das Berufsmatur. Als David starb, war er wie die anderen. Er hatte seinen Weg gefunden, das glaubte Pia Jaeggi jedenfalls.
    Manchmal spendet ihr der Gedanke Trost, dass wohl auch Fachleute ohnmächtig gewesen wären. Pia Jaeggi hat gelesen, dass die Hälfte aller Suizide von Menschen begangen wird, die in psychiatrischer Behandlung sind. Und dass die zuständigen Ärzte meist völlig überrascht auf die Tat reagieren. Dies bestätigte sich auch in der Selbsthilfegruppe, die sie nach Davids Tod gegründet hat: Sie ist Eltern begegnet, die auf einen jahrelangen Kampf mit ihrem Kind zurückblicken, auf eine diagnostizierte Zwangsneurose, missglückte Suizidversuche, Therapien, Psychiatrieaufenthalte. Und niemand konnte das Letzte verhindern.
    Es gibt Millionen von Menschen, die Qualen erleiden, psychische, körperliche, und die trotzdem am Leben hängen. Fehlt diesen Menschen vielleicht die Kraft, dem Schmerz ein Ende zu setzen? Ein Suizid ist etwas Aktives und erfordert Entschlossenheit. Warum denken wir, dass ein schwer kranker, achtzigjähriger Selbstmörder vernünftiger handelt als ein junger, gesunder, geliebter Mensch, wie David einer war? Pia Jaeggi kannte die Sturheit ihres Sohnes. Er besaß die ungemütliche Willensstärke, durchzuziehen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. In seinem letzten Brief schreibt ihr Sohn, dass er innerlich immer schon gewusst habe, »dass früher oder später die Zeit kommen«, und »dass diese schlimme Zeit nicht einfach so vorbeigehen würde«, dass er »dieser Welt einfach nicht gewachsen« sei. Sie fragt sich, was alles er unternommen und übersehen hat, um sich diese Prophezeiungen zu erfüllen. Wie er sich in seiner Ausweglosigkeit eingerichtet und sein Elend genährt hat.
    Sie

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